MAIKE ALBATH
Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens
ANKUNFT ANKUNFT Der Busfahrer in Reggio Calabria zeigt eine abschüssige Straße hinunter und wedelt mit dem Arm. Dort hinten sei der Hafen, wo sich auch die Anlegestelle der Fähre nach Messina befinde. Es ist ein heißer Spätnachmittag im September, ein Montag. Die Gegend ist abgelegen. Baustellen säumen den Bürgersteig, Müll liegt herum, kaum jemand ist unterwegs. Ob es stimmt? Doch dann kommt man an ein großes Eisentor und blickt auf den Kai. Auf einem Betonklotz prangt das blaue Emblem der Schifffahrtsgesellschaft: Liberty Lines – Aliscafo . In der Schalterhalle hängt der Fahrplan, alle halbe Stunde gibt es eine Verbindung. 25 Minuten soll die Überfahrt dauern. Der Wartesaal füllt sich, kalabresische und sizilianische Familien stehen herum. Das Tragflügelboot, das seit 1958 verkehrt, wird benutzt wie ein Linienbus. Als es anlegt, eilen Pendler zum Ausgang, ein paar Herren, die wie Rechtsanwälte aussehen und sich über einen Kaufvertrag unterhalten, alte Leute auf Verwandtenbesuch. Unter den Einsteigenden sind junge Männer mit Sporttaschen, Studenten, Mütter mit Kindern, zwei Mädchen, die sich hinter ihren Sonnenbrillen verschanzen und Stöpsel im Ohr tragen. Jemand telefoniert auf dem Handy. Dunst liegt über der bergigen Küste von Sizilien; auf dem Schiff ist man einen Moment lang verwirrt: Welche Seite ist jetzt welche? Aus der Ferne erkenne ich Villa San Giovanni, den Hafen für den Bahnübergang, dort wird der Zug aus Neapel auf die neuen großen Fähren von Trenitalia verfrachtet. Aus der Brücke über die Meerenge, die Milliarden verschlang und vielen Sizilianern und Kalabresen seit 1981 einen festen Arbeitsplatz in verschiedenen Planungsbüros verschaffte, ist bis heute nichts geworden. Stattdessen fährt der Zug immer noch in den Bauch der Fähre hinein und auf der anderen Seite wieder heraus und dann die Küste hinunter, bis nach Syrakus. Man sieht die mächtigen Schiffe gemächlich über die Meerenge kreuzen. Es ist ein hochliterarisches Terrain.
IM BALLSAAL
Angelica betritt das Parkett
DER GLANZ VON PALERMO
Im Palast des Leoparden
FAMILIENROMAN
Der Neffe der Fürstin
JUNGE DICHTER IM THERMALBAD
DER MÜSSIGGÄNGER AUF ABWEGEN
DER LEOPARD
Wer hat in Sizilien die Macht?
IRRLÄUFE EINES MANUSKRIPTS
Der Fürst tritt ab
VISCONTI UND DIE OPULENZ
ELEFANTEN IN CATANIA
Die Wahrheitssucher
MÜTTER UND SÖHNE
Der sizilianische Mann
IM MUTTERBAUCH
Vitaliano Brancati
EINER, KEINER ODER DOCH HUNDERTTAUSEND?
Luigi Pirandello
DAS GLEISSENDE LICHT DER VERNUNFT
Leonardo Sciascia
DIE WAHRHEIT DES FÄLSCHERS
Sciascia und die Geschichte
VIELE GESICHTER
Auf dem Ballarò
DER IDEENSCHMUGGLER
Andrea Camilleri
»ES WAR NICHTS PASSIERT.«
Die Mafia
TRAUER UND LICHT
Stefano D’Arrigo, Letizia Battaglia und Elvira Sellerio
BIBLIOGRAFIE
ÜBER DIE AUTORIN
Impressum
Der Busfahrer in Reggio Calabria zeigt eine abschüssige Straße hinunter und wedelt mit dem Arm. Dort hinten sei der Hafen, wo sich auch die Anlegestelle der Fähre nach Messina befinde. Es ist ein heißer Spätnachmittag im September, ein Montag. Die Gegend ist abgelegen. Baustellen säumen den Bürgersteig, Müll liegt herum, kaum jemand ist unterwegs. Ob es stimmt? Doch dann kommt man an ein großes Eisentor und blickt auf den Kai. Auf einem Betonklotz prangt das blaue Emblem der Schifffahrtsgesellschaft: Liberty Lines – Aliscafo . In der Schalterhalle hängt der Fahrplan, alle halbe Stunde gibt es eine Verbindung. 25 Minuten soll die Überfahrt dauern. Der Wartesaal füllt sich, kalabresische und sizilianische Familien stehen herum. Das Tragflügelboot, das seit 1958 verkehrt, wird benutzt wie ein Linienbus. Als es anlegt, eilen Pendler zum Ausgang, ein paar Herren, die wie Rechtsanwälte aussehen und sich über einen Kaufvertrag unterhalten, alte Leute auf Verwandtenbesuch. Unter den Einsteigenden sind junge Männer mit Sporttaschen, Studenten, Mütter mit Kindern, zwei Mädchen, die sich hinter ihren Sonnenbrillen verschanzen und Stöpsel im Ohr tragen. Jemand telefoniert auf dem Handy. Dunst liegt über der bergigen Küste von Sizilien; auf dem Schiff ist man einen Moment lang verwirrt: Welche Seite ist jetzt welche? Aus der Ferne erkenne ich Villa San Giovanni, den Hafen für den Bahnübergang, dort wird der Zug aus Neapel auf die neuen großen Fähren von Trenitalia verfrachtet. Aus der Brücke über die Meerenge, die Milliarden verschlang und vielen Sizilianern und Kalabresen seit 1981 einen festen Arbeitsplatz in verschiedenen Planungsbüros verschaffte, ist bis heute nichts geworden. Stattdessen fährt der Zug immer noch in den Bauch der Fähre hinein und auf der anderen Seite wieder heraus und dann die Küste hinunter, bis nach Syrakus. Man sieht die mächtigen Schiffe gemächlich über die Meerenge kreuzen. Es ist ein hochliterarisches Terrain.
Der Ich-Erzähler in Elio Vittorinis Ende der dreißiger Jahre erschienenem Roman Gespräch in Sizilien nimmt an Deck der Fähre über das winterliche Meer sein Frühstück ein und verzehrt mit großem Appetit sizilianischen Käse. Seine Reisegenossen erkennen in dem Mann, der in Mailand als Setzer arbeitet, sofort einen Auswanderer – denn ein Sizilianer würde am Morgen niemals etwas essen. Damals dauerte die Reise zwei Tage: Abfahrt in Mailand, Umstieg um Mitternacht in Florenz, am nächsten Morgen Ankunft in Rom, von dort bis nach Neapel und ab mittags die Küste hinunter. »Dann fuhr ich mit dem Zug durch Kalabrien, es begann wieder zu regnen, Nacht zu werden, und ich erkannte die Fahrt wieder, mich als Kind auf meinen zehn Fluchtversuchen von zu Hause und von Sizilien, hin und her durch dieses Land voll Rauch und Tunnels und unbeschreiblichen Pfiffen des Zuges, der nachts im Schlund eines Berges hält, am Meer, mit Namen aus uralten Träumen, Amantea, Maratea, Gioa Tauro. […] Ich schlief ein, ich erwachte und schlief wieder ein, um aufs Neue zu erwachen, bis ich schließlich an Bord des Fährbootes nach Sizilien war.« Vittorini, 1908 in Syrakus geboren, war der Sohn eines Eisenbahners und wurde in Mailand zu einem herausragenden italienischen Intellektuellen. Er war Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber und Verlagslektor. Nach Sizilien kehrte er kaum je zurück. Sein Roman prägte eine ganze Generation und gilt als eines der großen Werke des Neorealismus. Sizilien scheint als ein mythischer Raum auf, wo das Ich zu sich selbst findet, durch die Begegnung mit der Mutter von seiner Unruhe und zerstörerischen Wut kuriert wird und wieder aufbrechen kann, um sich den Anforderungen der Gegenwart zu stellen – dem Kampf um ein anderes Italien. Die Insel ist ein Hort von etwas Ursprünglichem, ein heilsames Terrain.
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