Maike Albath
Moravia, Pasolini,
Gadda und die Zeit
der Dolce Vita
BERENBERG
Vorbemerkung
Auf einem Flohmarkt am Rand der Stadt oberhalb des Piazzale Ennio Flaiano fuhr eines Sonntags im November 2011 ein Lastwagen vor. Nachdem der Händler die Plane zurückgeschlagen hatte, sammelten sich bald neugierige Besucher vor seinem improvisierten Stand. Was gab es hier zu kaufen, zum Sonderpreis von fünf Euro? Helme römischer Soldaten, Kopfbedeckungen in silbriger Farbe, die ein bisschen stumpf geworden war. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Material als Gummi. Irgendwie kamen einem diese Kappen bekannt vor. Der ganze Lastwagen war voll, Hunderte von Helmen, übereinander gestapelt. Familienväter griffen zu, ein paar Zehnjährige tobten als Krieger über den staubigen Platz, afrikanische Mütter zogen die Verwendung als Regenhut in Betracht, manch einem mochten schon die Karnevalsfestivitäten im nächsten Jahr durch den Kopf gehen. Jedenfalls dauerte es nur wenige Stunden, und schon war die gesamte Ladung verkauft. Für den Händler war es ein kleiner Coup: Seine Ware stammte aus dem Kostümfundus von Cinecittà, den Filmstudios an der Via Tuscolana, und er hatte einen Großeinkauf gewagt. Auf den leeren Kisten konnte man einen Schriftzug erkennen: »Ben Hur«.
Die Gummikappen der Soldaten aus William Wylers Kolossalfilm Ben Hur, der 1959 in Rom gedreht wurde, legen eine Spur. Sie führt zu einem wichtigen Kapitel der italienischen Kulturgeschichte und reicht bis in die Via Veneto, wo sich seit der Nachkriegszeit Produzenten, Regisseure, Schauspieler, Reporter und Schriftsteller trafen. Die Amerikaner unter ihnen hatten sich in den verglichen mit ihrer Heimat viel billigeren Hotels der Straße einquartiert. Auch in den Studios von Cinecittà musste man nur einen Bruchteil der Kosten bezahlen, die in Kalifornien verlangt wurden. Wegen der zahlreichen amerikanischen Produktionen in den Studios von Cinecittà sprach man damals von »Hollywood am Tiber«. Der Schriftsteller Ennio Flaiano arbeitete Anfang der fünfziger Jahre mit William Wyler zusammen, aber er war vor allem Drehbuchautor italienischer Regisseure. Genau wie alle anderen verabredete auch er sich mit seinen Freunden auf der Via Veneto, und deshalb lag es nahe, ausgerechnet diese Straße zum Schauplatz eines neuen Films zu machen. Gemeinsam mit Tullio Pinelli und Federico Fellini schrieb er 1958 das Drehbuch für La dolce vita. Der Film lieferte eine scharfe Abrechnung mit der gerade entstehenden Mediengesellschaft und provozierte bei seinen ersten Aufführungen 1960 einen ungeheuren Skandal. Es gab wochenlange Debatten; Kirche und Adel riefen nach Zensur, gleichzeitig brachen die Zuschauerzahlen alle Rekorde. Der ironische Titel La dolce vita galt bald international als Chiffre für das ganze Land und steht heute für italienische Lebensart und Stilbewusstsein. Kritik wurde in Affirmation umgemünzt. Sogar Silvio Berlusconi rechtfertigte seine vor Gericht verhandelten Exzesse mit den Worten »Io amo la dolce vita«, er liebe nun einmal la dolce vita.
Rom, Träume zeichnet ein Epochenbild. Im Mittelpunkt stehen fünf römische Schriftsteller, deren Biographien für die Zeit von La dolce vita exemplarisch sind. Alberto Moravia erlangte damals Weltruhm und wurde zu einer öffentlichen Institution. Seine Ehefrau Elsa Morante schrieb Romane, die sich den gängigen Kategorien entzogen, und landete mit ihrer Kriegschronik La Storia einen überraschenden Bestseller. Ihr gemeinsamer Freund Pier Paolo Pasolini bediente verschiedene Genres, löste tiefen Hass aus und wurde ebenso leidenschaftlich verehrt. Er war der große Entdecker der borgate, der Vorstädte. Der Mailänder Ingenieur Carlo Emilio Gadda, Tischgenosse bei gemeinsamen Abendessen, legte mit seiner spitzfindigen Kriminalgeschichte Die grässliche Bescherung in der Via Merulana ein überberstendes Rom-Tableau und eine Parabel auf Italien vor. Und Ennio Flaiano gewann mit einem Roman über den Krieg in Abessinien den ersten Premio Strega und machte sich als Aphoristiker, Dramatiker und Filmautor einen Namen. Immer wieder kam es zu Verbindungen zwischen Kino und Literatur. Der Film bot einen Broterwerb und war ein Experimentierfeld für neue Erzähltechniken. Die Übergänge zwischen den Sphären waren fließend. Jeder hatte einen eigenen Traum von Rom im Kopf.
Maike Albath, Berlin, im Mai 2013
Die Betten wurden jeden Morgen um acht Uhr auf den Balkon geschoben. Um elf kehrten die Kranken in ihre Zimmer zurück. Sonnenstrahlen auf nackter Haut galten als neues Heilmittel gegen Knochentuberkulose, und bei vielen schlug die Therapie tatsächlich an. Kombiniert mit bleiernen Streckverbänden, Liegekuren und orthopädischen Vorrichtungen, die man am Körper trug, ließ sich die schwere Krankheit sogar heilen. Alberto Pincherle, 1907 in Rom geboren und seit seinem zehnten Lebensjahr immer wieder bettlägerig, fühlte sich nach seiner Ankunft im Sanatorium Codivilla in Cortina d’Ampezzo im Frühjahr 1924 schlagartig besser. Seine Schmerzen verschwanden.
Das Codivilla war im ehemaligen Hotel des Alpes untergebracht. Die großzügigen Veranden, Loggien und hölzernen Balkons erinnerten noch an den Hotelbetrieb. Von den Zerstreuungen des mondänen Wintersportortes in den Dolomiten war in dem fortschrittlichen Sanatorium allerdings nichts zu spüren. Es herrschte ein strikter Tagesablauf: Nach dem Sonnenbaden kam Professor Vacchelli zur Visite. Vacchelli eilte den Korridor hinunter, und man hörte seine Stimme schon aus der Ferne, die beflissenen Antworten der Krankenschwestern waren nicht zu verstehen. Der Professor trat an ein Bett, ließ sich die Karteikarte reichen, sagte ein oder zwei Sätze, verschwand wieder. Anschließend gab es Mittagessen. Bis zum Abendessen um zwanzig Uhr blieben die Patienten sich selbst überlassen. Alberto war allein; seine Familie lebte in Rom. Großbürgertum mit einem Haus in der Via Donizetti, unweit der Villa Borghese. Der Vater stammte ursprünglich aus Venedig, ein jüdischer Architekt, arbeitsam, mit unerschütterlichen Gewohnheiten und einer Passion für harmonische Linienführung, aber nervös und leicht reizbar. Er baute Häuser im französischen Stil, eines konnte man aus dem oberen Stockwerk der Via Donizetti sogar sehen, es stand in der Via Salaria. Seine dunkelhaarige Frau kam aus bescheideneren Verhältnissen und war stolz auf ihren sozialen Aufstieg. Allerdings langweilte sie sich oft, denn verheiratete Damen blieben abends zu Hause. Manchmal begleitete der Architekt sie ins Theater oder die Oper. Signora Pincherle entließ jede Woche Personal. Sie beschäftigte Gouvernanten, Dienstmädchen und eine Köchin. Nur ihren Schneiderinnen blieb sie gleichmäßig gewogen; sie gab Unmengen von Geld für ihre Garderobe und Hüte aus. Vormittags trug sie seidene Morgenmäntel mit Spitze, dann half ihr eines der Mädchen beim Ankleiden: lange Gewänder aus Organza mit Puffärmeln, alles nach der neuesten Pariser Mode. Ab und zu richtete sie Abendessen aus und führte ihre Töchter vor. Außerdem kümmerte sie sich natürlich um ihren jüngsten Sohn Gastone, der zur Schule ging. Für regelmäßige Besuche war Cortina zu weit weg.
Читать дальше