Maike Grunwald
Katzen. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
Gewidmet meinen Eltern.
Für alle Katzenfans und ihre Freunde.
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961507-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020554-9
www.reclam.de
Vorab: Geliebte Rätselwesen
Manche Katzen apportieren Spielzeug. Andere schalten jeden Tag das elektronische Piano ein und komponieren darauf. Unsere weckt uns mit nächtlichem Geplansche in ihrem privaten Pool. Dort feiert sie gerne Partys mit sich selbst. Morgens ist unsere Wohnung voller nasser Pfotenspuren. Mein Mann findet das lustig. Er hat eben eine crazy Katzenfrau geheiratet und trägt die Folgen mit Humor.
Es ist ebenso gemütlich wie verrückt, das Leben mit Katzen, diesen herrlich schrägen Wesen. Das hat Tradition, auch wenn es immer Turbulenzen gab und geben wird. Die Jahrtausende dauernde gemeinsame Geschichte von Katzen und Menschen ist geprägt von Widersprüchen und zwiespältigen Emotionen. Im alten Ägypten vergöttert, im Mittelalter verteufelt, ab der Renaissance wieder gepriesen, wurde die Katze zum salonfähigen Luxustier, zur Muse großer Dichter, zum Internetstar, aber auch zum Motiv für schaurige Halloweendekorationen und zum gehassten Inbegriff invasiver Spezies, die heimische Vogelarten ausrotten. Psychologen und Kardiologen schwören auf die heilsame Wirkung des Kontakts zu Katzen, gleichzeitig sind Katzenphobie und -allergie häufige Leiden.
Dennoch ist die kontroverse Katze das normalste, nämlich unser mit Abstand beliebtestes Haustier. Längst hat sie den vergleichsweise unkomplizierten Hund als »Beste Freundin des Menschen« überholt. Allein in Deutschland leben geschätzte 13,7 Millionen Katzen, aber nur 9,2 Millionen Hunde. Im Unterschied zu letzteren sind Katzen hierzulande sogar verbreiteter als Kinder (11,17 Millionen Unter-14-Jährige gibt es in Deutschland, alle Zahlen von statista.com).
Warum ist die Katze so beliebt? Es gibt zahllose Gründe. Sie macht ein Zuhause kuschelig. Sie gilt als Inbegriff von Ästhetik, Eleganz und Stil. Dichter und Dichterinnen wie Mark Twain und Colette priesen ihre Schönheit, selbst der Obermacho Ernest Hemingway war ihr verfallen. Maler wie Paul Klee bildeten sie ab oder ließen sich mit ihnen porträtieren, beispielsweise Gustav Klimt mit seiner Katze namens Katze. Sie fasziniert uns mit ihren scharfen Sinnen, aber auch ihrer Kraft. Wir beneiden sie um ihre Fähigkeit, gepflegt zu faulenzen, und sind geschmeichelt, wenn sie unsere Nähe sucht. Aber nicht alle Menschen teilen diese Katzenliebe (Adolf Hitler zum Beispiel bevorzugte Schäferhunde). Und selbst die, die sie empfinden, können sie, bei allen aufgezählten Gründen, trotzdem nicht so leicht erklären.
Unsere Faszination für Katzen zu ergründen, ihren Mythos zu erklären – was bisher niemandem gelungen ist, werde ich nicht versuchen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Kurztrip durch unsere gemeinsame Kulturgeschichte mitnehmen, Sie mit seltsamen Legenden und kaum bekannten Fakten unterhalten. Es geht dabei nur um die Hauskatze (mit dem Begriff sind auch Freigänger und verwilderte Haustiere gemeint). In der Tradition der Essais von Michel de Montaigne, einem weiteren Katzenfreund, soll dieses Büchlein keine absoluten Antworten diktieren, sondern Fragen wecken und neue Blickwinkel aufzeigen. Mit seinen Worten schließe ich diese Einführung und lade Sie zum Spielen ein.
Wer weiß, wenn ich mit meiner Katze spiele, ob sie sich die Zeit nicht mehr mit mir vertreibt, als ich mir dieselbe mit ihr vertreibe? Wir treiben wechselweise miteinander Possen.
(Michel de Montaigne)
Die sanfte Wilde – »Domestizierte Katze« als Oxymoron
Das Katz-und-Maus-Spiel, dass diese Viecher mit uns treiben, beginnt schon mit der Suche nach den Anfängen. Seit wann leben wir mit domestizierten Katzen zusammen? Und tun wir das überhaupt? Oder teilen wir unser Heim nicht vielmehr mit Wildtieren, die sich selbst halbwegs gezähmt haben? In anderen Worten: Sind unsere Katzen überhaupt ordentlich domestiziert? Und wo kommen sie her?
Die Antworten auf diese Fragen waren lange ungeklärt. Sicher wussten die Historiker nur, dass die kleine Tigerin viel später zu uns kam als der Hund, unser ältestes Haustier. Seine Karriere als »Bester Freund des Menschen« begann vor mehr als 20 000 Jahren, als wir noch als Jäger und Sammler umherzogen. Wölfe folgten ihnen, um Abfälle zu fressen, und wurden zum nützlichen Warnsystem und Schutz vor Feinden. Ihre Haustierwerdung begann, als Menschen Welpen zu sich nahmen und bald auch für ihre Zwecke zurechtzüchteten. Dies geschah wahrscheinlich in Zentraleuropa. Unsere Hauskatze hingegen ist eine exotische Immigrantin, die wohl erst mit den Phöniziern, Römern und Wikingern zu uns kam, und zwar oft per Schiff – dazu nachher mehr.
Die Hauskatze wurde nicht nur weitaus später, sondern auch in viel geringerem Ausmaß von Menschen geformt als der Hund, wie neue Genstudien bestätigen. Besonders stark domestizierte Ex-Wölfe, nämlich durch Zucht entstandene Hundesorten, gab es bereits vor 4000 Jahren oder früher. Heute existieren über 300 anerkannte Hunderassen in einer riesigen optischen und charakterlichen Bandbreite, manche sind groß wie Ponys, andere klein wie Kaninchen. Viele wurden für Spezialaufgaben erschaffen, etwa als Schlitten-, Hirten- oder Jagdhunde. Bei Katzen kam man hingegen erst vor weniger als 200 Jahren auf die Idee, besondere Rassen durch Zucht zu gestalten. Dabei ging es weniger darum, ihr Wesen für bestimmte Dienste am Menschen zu perfektionieren, sondern schlicht um ihr Aussehen. Man fand etwa besonders langes Haar schick. Trotzdem lassen sich viele Hauskatzen bis heute kaum von Wildkatzen unterscheiden, allen voran grau getigerte Exemplare der häufigsten Rasse: Europäisch Kurzhaar, auch bekannt als »stinknormale Hauskatze«. Bis heute gibt es lediglich rund 60 Katzenrassen, die sich vor allem durch ihr Fell voneinander unterscheiden.
Unter Domestizierung versteht man – im Gegensatz zur Zähmung, bei der nur individuelle Wildtiere an Menschen gewöhnt werden – den Prozess der Haustierwerdung einer ganzen Tierart, der über Generationen erfolgt und auch genetische Veränderungen mit sich bringt. Diese sind meist so gravierend, dass man die Haustierform zwar nicht als andere Tierart als die Wildform einstuft, aber doch als eigene Unterart. Typische Anzeichen der Domestizierung sind starke Größenunterschiede zur Wildform, ein kürzerer Schwanz, ein kleineres Gehirn, kleinere Zähne, kürzere Schnauzen, niedliche Kindchenschema-Merkmale wie Schlappohren, juveniles Verhalten sowie freundlicher, sozial geprägter Umgang mit Artgenossen und Menschen.
Dass die Vorfahren der Hunde sich für die Haustierwerdung geradezu anboten, ist naheliegend. Als Rudeltiere ließen sie sich lenken, sie waren nützlich als Wache und bei der gemeinsamen Jagd. Katzen aber erledigen die Nahrungssuche allein, sie sind in ihrer Wildform strikte Einzelgänger. Wie wurden sie Haustiere?
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