„Entschuldigung“, keucht Marc plötzlich und drückt seinen Kopf an meinen Hals. „Ich wollte nicht … ich dachte nicht, dass ich so schnell …“
„Schhhhh“, mache ich und streichle ihm über die Haare. „Alles okay. Alles gut.“ Ich drehe mich zur Seite und betrachte das Blut auf dem Leintuch. Mein Blut.
Mit Blut hat alles angefangen. War plötzlich in der Kloschüssel. Schmerzen hatte ich keine, aber bei sowas geht man schon mal zum Arzt. Vorsichtshalber. Und dann ging alles ganz schnell.
Angst habe ich am Anfang auch keine gespürt. Mehr Aufregung. Und die feste Überzeugung, das zu schaffen. Mein Körper und ich, wir sollten ein gutes Team sein gegen diese neue Bedrohung. Wir waren zusammengeschweißt wie Pech und Schwefel und würden einander nicht im Stich lassen. Wir würden gemeinsam kämpfen. Dachte ich.
Da wusste ich noch nicht, dass du wollen kannst, soviel du willst, dein Körper aber trotzdem irgendwann sagt, er will nicht mehr. Nicht mehr mitmacht. Sich verhält wie ein störrischer Esel, der einfach nicht mehr weitergehen will. Dass da nichts ist mit Team.
Aber jetzt ist er wieder da, bei mir. Ist zurückgekehrt. Hat es mit mir sogar ins Bett von einem wie Marc geschafft. Ein kurzer Schmerz, ein bisschen Blut, und niemand muss zum Arzt deswegen.
„Geht’s dir gut?“, fragt Marc, obwohl er mich das nicht fragen braucht, obwohl er ja sehen kann, wie ich daliege mit einem Strahlen im Gesicht, das von einem Ohr zum anderen geht.
Marc lächelt zurück, und wir lächeln einander an, wie zwei Verliebte und ich könnte heulen vor Glück. Langsam streichle ich Marc über den Rücken, umfasse mit meinen Händen seine Oberarme, Marc spannt die Muskeln an und lächelt noch immer. Ich mag Muskeln.
Ich mag auch Fett und Haut und Knochen und Haare. Ich hab das alles wieder. Wir sind wieder ein Team.
„Du-hu“, murmle ich später in seine Armbeuge hinein.
„Mhm?“
„Meine Eltern wollen dich kennenlernen.“
Ich habe die Augen geschlossen, aber ich spüre sein Lächeln. „Wirklich?“
Ich nicke. „Sie laden dich am Sonntag zum Brunchen ein.“
„Oje. Sonntag kann ich nicht. Da ist Jugendlauf und ich hab schon das Startgeld gezahlt.“
Ich richte mich auf. „Jugend-was? Sag bloß, du läufst Marathon?“
„Marathon kommt in einem Monat, für den trainier ich im Moment erst. Aber beim Jugendlauf mach ich schon seit Jahren mit, der ist nur zehn Kilometer.“
„Sag mal, gibt’s etwas, was du nicht machst?“
Marc lacht. „Ich geb mich nicht geschlagen“, sagt er, ohne zu zögern. Er zieht mich wieder zu sich.
Marc ist also beim Jugendlauf, das gibt mir noch etwas Zeit. Andererseits … „Kann man dir da zuschauen?“, will ich wissen. „Also beim Laufen?“ Marc strahlt mich an. „Würdest du kommen?“
„Mhm. Gerne. Vielleicht.“
Marc streicht meine Haare nach hinten. Auch das mag ich gerne. Ich habe Haare, die man in verschiedene Richtungen streichen kann, und ich habe jemanden, der das für mich tut.
„Was jetzt?“, fragt er. „Gerne oder vielleicht?“
„Gerne. Stört’s dich, wenn meine Eltern mitkommen?“
„Überhaupt nicht.“
ANFANGSmusste ich einmal im Monat zum Check-Up, inzwischen nur noch alle drei Monate. Blutüberprüfung, Urinkontrolle, das ganze Drum und Dran. Anfangs war ich extrem nervös, weil ich nicht glauben konnte, dass jetzt wirklich alles vorbei sein sollte. Jeweils eine Woche vor der Nachkontrolle waren meine Alpträume am schlimmsten. Auch untertags hatte ich Panik, dass sie mich wieder dabehalten würden.
War zum Glück aber nicht so. Annette lächelte jedes Mal, wenn sie mir meine Befunde zeigte. „Wunderbare Werte“, sagte sie. „Ich freu mich so.“
Einige Tage vor dem Termin bin ich noch immer nervös. Aber je mehr Zeit vergeht, umso mehr mischt sich auch ein anderes Gefühl hinein, das die Oberhand gewinnt, sobald ich Annette lächeln sehe. Ich freue mich. Irgendwie gehe ich da inzwischen sogar gerne hin. Weil Annette sich so freut. Weil wir uns beide freuen.
Eigentlich hätte ich auch regelmäßig mit der Psychologin sprechen sollen. Ist so der Plan, wenn man rauskommt. Aber die konnte ich schon auf der Station nicht leiden. Sie wollte über meinen Schulbesuch sprechen und mir helfen, Kontakte aufrechtzuerhalten. Gedächtnistraining machen und so Scheiß. Ich hatte aber keine neurologische Störung, die ein Gedächtnistraining erfordert hätte. Ich wollte auch nicht in die Schule gehen und schon gar keine Kontakte aufrechterhalten.
Dass ich jetzt im Nachhinein regelmäßig mit ihr reden sollte, schien mir absurd, und Annette hatte vorgeschlagen, dass ich bei den Nachsorgeuntersuchungen einfach mit ihr darüber reden sollte, wie es mir so ging. Das Angebot nahm ich dankend an. Mit Annette wollte ich reden. Auch wenn sie nie genug Zeit für mich hatte.
„Und, wie geht’s dir sonst?“, will Annette wissen, nachdem klar ist, dass mein Körper wieder drei Monate ohne Auffälligkeiten mitgemacht hat.
„Ich hab mit meinem Freund geschlafen“, platze ich heraus. Annette strahlt übers ganze Gesicht. „Schön.“
Endlich fühle ich mich so, wie ich immer sein wollte. Ich wäre gern die Vorzeigepatientin gewesen, die lächelnd reinkommt und lächelnd geht. Bei der die Therapien sofort anschlagen und über die sich die Ärzte bewundernd Notizen machen, wegen des unüblich schnellen Heilungsverlaufs. Die dann sagen kann, ja, das war bestimmt, weil ich mich schon seit meiner Kindheit bewusst ernähre und Stress vermeide und überhaupt ganz perfekt gelebt habe. Weil der Krebs sozusagen nur ein Irrtum der Natur war, der eigentlich ganz wen anderen treffen hätte sollen, jemanden, der nur fettes Zeug isst und raucht und nie Sport macht. Aber die Natur hat den Fehler gleich erkannt und mich schnell wieder gesund gemacht, seht ihr, ich war die Falsche. Notiert euch das gleich mal, damit ihr es später sofort erkennt, wenn wieder mal die Falsche vor euch sitzt.
Auch wenn alle Statistiken dagegen sprechen, man selbst ist natürlich die große Ausnahme.
Bloß: Nein.
Ist man nicht.
Reingegangen bin ich noch lächelnd. Mit dem festen Vorsatz, das alles schnell hinter mich zu bringen.
Der Krebs schert sich aber nicht um deine Vorsätze. Als die Chemo zum zweiten Mal nicht anschlug, hatte ich das Lächeln schon lange aufgegeben.
Als ich merkte, dass das mit Vorzeigepatientin nicht klappen würde, habe ich beschlossen, alle zu boykottieren. Was sollte das auch alles? Die Cliniclowns wegzuschicken, war ein Einfaches. Die Psychologin war schon hartnäckiger, die kam immer wieder und ich musste sie regelrecht anschreien, bis sie endlich verschwand. Ich verstand nicht, warum alle ständig etwas von mir wollten. Mich aufheitern, mich befragen, mich unterrichten. Wozu das alles? Ich würde doch sowieso sterben.
Ich schüttle mich und versuche, solche Gedanken wegzuwischen. Annette war die Einzige, die ich damals nicht gehasst habe, obwohl sie bestimmt für einen Teil meiner Schmerzen verantwortlich war. Aber sie war die Einzige, die mich nicht immer dazu aufforderte, positiv zu denken, weil das angeblich den Krankheitsverlauf beeinflusste. Sie war auch diejenige, die mir verriet, dass die Cliniclowns sogar manchmal zu ihr und dem restlichen Krankenhauspersonal kommen, um sie aufzuheitern.
Wenn’s mit der Vorzeigepatientin schon nicht geklappt hat, jetzt kann ich die Vorzeigepatientin der Nachsorge sein. Kann Annette zeigen, wie gut alles bei mir läuft. Es läuft auch tatsächlich gut. Es gibt allen Grund, sich zu freuen. Darüber, dass ich jetzt gesund bin, gesund- gesund gesund! Und darüber, dass ich wieder ein normales Leben aufgenommen habe. Freundinnen habe. Einen Freund. Mit ihm geschlafen habe. Mit einem Körper, der wieder funktioniert.
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