Motivation
Upgrade vs. Innovation
Den initialen Startschuss für das Buch bekam ich am 31.12.2013. Nicht weil Silvester so ein Tag ist, an dem man sich solche irrwitzigen Vorhaben wie ein Buch zu schreiben nach dem zweiten Glas Wein einfach mal vornimmt. Es hatte mit einem Artikel von Joshua Topolsky zu tun, dem ehemaligen Editor-in-Chief des erfolgreichen Onlinemagazins The Verge aus New York. Der von Topolsky jährlich zu Silvester erscheinende Leitartikel war auch dieses Mal sehr positiv gehalten: „Welcome to the age of upgrade“. 1Quintessenz: Jede Iteration bzw. jedes Upgrade der jetzt bestehenden Technik, jedes neue Smartphone, jeder neue vernetzte Thermostat und jede schnellere CPU ist ein Gewinn für uns.
Da saß ich nun auf unserem Sofa zu Silvester und war nachdenklich geworden. Irgendwas hatte Josh dieses Mal nicht ganz durchdacht oder begriffen: Die Welt kann sich zu viele inkrementelle Upgrades einfach nicht mehr leisten. Nehmen wir die Herstellung und Distribution von Mobiltelefonen. Es werden pro Tag ca. 6 Mio. davon hergestellt. Lassen Sie sich das mal auf ihren Gehirnwindungen zergehen: 6 Millionen Handys am Tag, das sind über 2 Mrd. Einheiten im Jahr! Ein wahrhaft gigantischer Berg an Plastik, Edel- und Schwermetallen, inklusive Seltenen Erden, Glas und vielen komplizierten chemischen Verbindungen und Abfällen, die bei der Produktion anfallen. Nur damit man wieder das neueste Upgrade hat, das lediglich marktverträglich und damit inkrementell verbessert wurde. Ein etwas angepasstes Design, ein etwas schnellerer Prozessor, eine bessere Kamera – aber keine echte Innovation, die die Menschen unbedingt benötigen würden.
Ist so ein Denken altmodisch oder konservativ?
Vielleicht denke ich zunehmend wie mein Vater. Er wurde 1939 geboren, teilte sich zu dieser Zeit den Erdball mit gerade mal 2,5 Milliarden Menschen, ist in einer schwierigen Nachkriegszeit aufgewachsen, konnte jedoch mit dem Wirtschaftswunder Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre den Traum des neuen Deutschlands leben und davon profitieren. Vater von 3 Kindern, Bauingenieur, später Prokurist eines mittelgroßen Bauunternehmens in Hamburg.
Er kannte kein YouTube, geschweige denn Video on Demand, keinen Nespresso Volluto, keine XING App, kein Twitter im Auto, er hatte keinen Bedarf an Pilates oder Ashtanga Yoga. Er brauchte in seinem Leben nie einen PC sein Eigen nennen, geschweige denn ein Connected Smart-Device bedienen, abgesehen von einem einfachen Navigationsgerät in seinem letzten Auto. Auf seinem Schreibtisch in der Firma stand lediglich ein Telefon.
Er starb an einem Dienstag im November 2008. Mit ihm starb für mich die Generation der Pre-Smartphone-Nutzer. Wenn ich in der Arbeit so in meinen PC starre, dann denke ich immer öfter an ihn. Hatte er nicht ein schöneres, unbeschwerteres Leben? Oder war es langweiliger? Hat ihm etwas gefehlt? Und, was noch interessanter ist: Hätte mir anstelle seiner Person etwas gefehlt? Die Antwort ist ganz einfach: Er war ein Kind seiner Zeit. Wie wir alle mehr oder weniger mit den Gegebenheiten unserer Gesellschaft, unserer Umwelt leben müssen, hat auch mein Vater das Leben geführt, das in seiner Zeit ganz einfach praktikabel war.
Bei allem Konservativismus meines Vaters gab es die sehr positive ‚Alles ist möglich‘-Mentalität meiner Mutter. Das hat zu mehr oder minder schwierigen familiären Situationen geführt und gleichzeitig zu meinem Drang, die Welt zum Besseren zu innovieren, wenn auch meistens nur gedanklich. 1970 geboren, bin ich in der ersten Hälfte meiner Kindheit mit relativ wenig Technik aufgewachsen. Umso mehr war die technische Zukunft faszinierend. Ich habe als Kind mit Begeisterung die „Was ist was“-Bücher gelesen und mit meinen Brüdern wirklich stundenlang über die kommenden technischen Möglichkeiten nachgedacht. Raumschiff Enterprise (heute im Originaltitel Star Trek), Raumschiff Orion, Mein Onkel vom Mars, später Knight Rider und einige andere Zukunftsserien in unserem 3-kanäligen Fernsehangebot waren sozusagen Pflichtprogramm. Wir haben uns fliegende, selbstfahrende Autos vorgestellt und wortwörtlich ausgemalt, riesengroße, flache Fernseher, aber auch winzig kleine Bildschirme, die in Brillen eingebaut werden können, inklusive einem ganzen TV-Sender, der die entsprechenden Programme für so eine Technik hätte liefern sollen. Wir dachten über das Leben in Unterwasserstädten nach oder wie die Kolonisierung des Mondes oder des Mars aussehen könnte. Es gab in unseren Köpfen Raumschiffe, menschliche Roboter, Elektronenhirne, superschnelle, röhrenartige Schnellzugsysteme, Nudel-Koch-Automaten inklusive Soßen- plus Parmesan-Funktion.
Dann kam der Commodore 64, unser erster Home-Computer. Faszination pur, wenn auch komplett offline. Mit lächerlichen 38911 Byte freiem Arbeitsspeicher brach für uns das ‚echte‘ Computer-Zeitalter an (dazu später mehr). In meiner Studienzeit kam ich 1993 das erste Mal mit dem WWW in Berührung, schrieb in einer kleinen Studentengruppe meine ersten Zeilen HTML-Code. Später entwickelte sich daraus ein ganzes Business mit Agentur, Dot-Com Venture Capital und auch dem Totalabsturz der Firma. In dieser Zeit außerdem die eigene Familiengründung, mit allen Höhen und Tiefen der menschlichen Empfindungen. Nach der wilden Startup-Zeit bin ich in die IT-Beraterzunft gegangen, mit gelegentlichen selbständigen Zwischenstationen (Schreiben und Aufführen eines Musicals, Konzeption eines Food- und Livestyle-TV-Senders, Konzeption und Entwicklung einer Mobile Couponing Lösung). Schließlich wurde ich hauptberuflich Innovationsberater und durch das ständige, themenübergreifende Recherchieren Trend- und Zukunftsforscher.
Zwischen Entertainment und kritischem Ausblick
Anfangs war ich eine Art Zukunftsprediger, der die ach so vielversprechenden Innovationssprünge lobpreist und eine geradezu paradiesische ‚Alles wird gut!‘-Welt aufmalt. Über die Zeit bin ich realistischer geworden. Vielleicht auch dadurch, dass es inzwischen zu viele meiner Art gibt und wir schon oft als „die Spinner“ abgetan und richtiggehend abgelehnt werden. Das liegt leider auch daran, dass es in dem Bereich Zukunfts- und Innovationsforschung sehr viele Entertainer gibt, die unsere Zukunft eher als Zirkusnummer präsentieren. Da werden Menschen auf Veranstaltungen und Kongresse gezerrt, die eigentlich nichts zu einer seriösen Beschäftigung mit unseren Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten beitragen. Wie auf dem Jahrmarkt werden selbsternannte Biohacker mit seltsamen, in Eigenbau gefertigten Sensoren (geschwulstartig unter der Haut) vorgeführt, es wird von Moral Enhancement und Parallel-Verschaltung von Synapsen geschwafelt und gruselige Roboter-Zwillinge präsentiert. Sicherlich ist so etwas für den einen oder anderen Kunden kurzweilig und, ja, „sooo faszinierend!“ – aber völlig unsinnig, wenn man mal genau darüber nachdenkt. Bringt Ihnen das den Überblick über Ihre tatsächliche Zukunft? Hilft Ihnen das? Können Sie diesbezüglich Zusammenhänge in Ihrem Kopf formen?
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist wichtig, über die Zukunft bzw. die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu sprechen, auch in dieser Nummern-Show-Art – damit sich Nein- und Vielleicht-später-Sager überhaupt damit beschäftigen. Nur dieser fast zwanghafte, unreflektierte Fortschrittsglaube gepaart mit überkommenen, viel zu überzogenen Wachstumsfantasien passt nicht mehr in diese Zeit. Einige eigentlich wichtige Thematiken verkommen nur noch zu Marketing-Worthülsen. Die Welt scheint nur noch aus disruptiven Lösungen, Innovationssprüngen, Big Data, Nanotechnologie und Cloud Services zu bestehen. Es ist eine Zeit des nervösen Sirrens in der Luft, der Panik, „The Next Big Thing“ zu verpassen. Darum werden z. B. auch Startups mit so vielen Milliarden bedacht, obwohl nur wenig Substanz dahintersteckt.
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