Er war völlig apathisch. „Du hast sie geöffnet! Du hättest sie nicht öffnen dürfen!“, stammelte er vor sich hin.
Ich verstand Finn einfach nicht. Aber anstatt ihn, wie ich es sonst immer tat, abzuweisen, nahm ich dieses Mal seine Hand. Ich wollte ihn trösten. Doch im selben Moment hörte ich einen lauten Knall. Die Tür zum Dachboden war mit enormer Wucht zugefallen.
Ich sprang auf und rannte die Treppe zum Dachboden hinauf. Die Tür war fest verschlossen. Man konnte nicht einen Zentimeter an ihr rütteln. Panisch hämmerte Daiki von der Innenseite gegen das massive Holz. Sie war noch da drinnen.
Jetzt kehrten die Gedanken zurück. Die dunkle Vorahnung, dass mit diesem Dachboden etwas nicht stimmte, war wieder allgegenwärtig.
Daiki schrie aus Leibeskräften. „Hol mich hier heraus!“ Sie hatte panische Angst.
Ich versuchte alles, um sie zu beruhigen. „Nur einen kurzen Augenblick! Ich habe es gleich!“ Mit aller Kraft drückte ich gegen die verdammte Tür. Es war, als würde sie jemand von innen festhalten.
„Nein! Lass mich in Ruhe! Wer bist du?“, drang es gedämpft hinter der Tür hervor. Mein Herz schlug so schnell wie nie zuvor. Wer war noch da oben? „Finn, du musst sofort Onkel Elmar holen!“, rief ich die Stufen zum Flur hinunter.
Finn erschreckte mich beinahe zu Tode. Er befand sich direkt hinter mir. Anstatt meiner Bitte nachzukommen, schob er sich an mir vorbei. Er hatte Angst. Das sah ich in seinen Augen. Doch irgendjemand musste ihm Mut zugesprochen haben. Mit ruhiger Stimme trat er an die verschlossene Tür heran. „Daiki, hörst du mich?“
„Ja, ich höre dich!“, jammerte sie.
Finn richtete seinen Blick nach oben, so als würde links neben ihm eine erwachsene Person stehen, die ihm etwas zu sagen hatte. Die Situation war unheimlich. Dann konzentrierte er sich auf Daiki. „Du musst das Kästchen schließen! Vorher wird sich die Tür nicht öffnen lassen!“
Woher wusste Finn von dem Holzkästchen?
„Ich kann nicht!“, stammelte Daiki.
„Doch, du kannst! Vertraue mir! Es wird dir nichts passieren! Zähle bis sieben, dann nimm all deinen Mut zusammen und mach es!“ Wir konnten Daikis Stimme dumpf durch die Tür wahrnehmen. Sie zählte. Danach rannte sie, den Geräuschen zu urteilen. Sekunden später öffnete sich die Tür von selbst.
Finn und ich stürmten den Dachboden, der wirkte jedoch unauffällig. Nur Daiki war anzusehen, dass etwas vorgefallen war. Sie saß verstört und weinend auf dem Boden. Neben ihr lag das Kästchen. Sie hatte es, genau wie Finn es von ihr verlangt hatte, geschlossen.
Ich legte meine Arme um Daiki. Sie zitterte am ganzen Körper. „Was ist passiert?“ Auch mir schlotterten die Knie. Daiki konnte auf meine Frage nicht antworten. Unaussprechlich war das, was sie gesehen hatte.
Finn holte schließlich Onkel Elmar hinzu. Doch auch er kam nicht an Daiki heran. Er rief ihre Eltern an und sie wurde abgeholt.
Am Abend sprach ich meinen Bruder auf die Ereignisse des Tages an. Wir saßen auf seinem Bett. Von unten klangen Geräusche des Fernsehers nach oben.
„Woher wusstest du, dass Daiki das Kästchen schließen muss, damit der Spuk ein Ende hat? Woher wusstest du überhaupt von diesem Kästchen? Ich hatte dir noch nichts von dieser Entdeckung erzählt ...“
Finn dachte kurz darüber nach, was er mir sagen wollte. „Es war Raphael, der mir alles erzählte. Du darfst das Kästchen nie wieder öffnen! Etwas Böses lauert darin!“
Ein unangenehmes Kribbeln wanderte durch meinen Körper. Der Brief, den ich in diesem Behältnis gefunden hatte, befand sich nun auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer. Ich betete, dass der Spuk nicht auch dort haftete.
Das Erstaunliche war, dass ich meine Gedanken nicht aussprechen musste. Es war, als würde Finn in meinen Gedanken lesen. „Du musst dir keine Sorgen machen. Es war nicht Papas Schreiben, das diese merkwürdigen Ereignisse ausgelöst hat. Es befand sich noch etwas anderes in dem Kästchen.“
„Finn, darin war nichts anderes. Also wenn es nicht an diesem Stück Papier lag, was soll es dann ausgelöst haben?“
„Es ist versteckt ...“, erwiderte Finn. „Aber es befindet sich definitiv in dem Kästchen. Lassen wir es dort, dann sind wir sicher!“
Im Laufe unseres Gesprächs zeigte ich Finn das Schreiben von unserem Vater. Genau wie ich hatte er nicht die geringste Ahnung, was dieser sogenannte Kreis sein sollte, an den die merkwürdigen Befehle gerichtet waren. Auch die Befehle selbst waren für ihn nicht aufschlussreich. Er verwies auf den Namen Raphael. Er freute sich darüber, dass er auch schon unseren Eltern geholfen haben musste. Schließlich hätte Vater ihn sonst nicht kennen können. Finn fragte mich überdies, ob ich ihm nun endlich glauben würde. Seiner Meinung nach bewies das Schreiben schwarz auf weiß, dass Raphael keine Kindheitsfantasie sein konnte.
Ich sagte ihm, dass ich ihm glaubte.
Nach unserem Gespräch setzten Finn und ich uns zu unserem Onkel vor den Fernseher. Die ARD brachte außergewöhnliche Nachrichten. Zum ersten Mal war unsere Heimat in der Tagesschau zu sehen. Prof. Dr. Wolfgang Alldorf von der Universität Konstanz und sein Team hatten mithilfe eines U-Boots namens Bukefalos-77 in den Tiefen des Bodensees eine atemberaubende Entdeckung gemacht. Unter einer dicken Schicht von Schlamm und Algen fanden die Forscher die römische Rüstung eines Legionärs. Daneben lagen die Reste einer Eisenkette, die an einer schweren Schatztruhe befestigt war. Die massive Truhe war gefüllt mit goldenen Solidus-Münzen, anhand derer der Fund genauer datiert werden konnte. Er stammte aus der Zeit des Kaisers Augustus, der 31 vor Christus bis 14 nach Christus über das Imperium Romanum regierte. Das wertvollste Objekt des Fundes war ein Diamant von 150 Karat. Der Edelstein war damit wertvoller als der Koh-i-Noor, einem Diamanten von knapp 110 Karat, der über die britische Ostindien-Kompanie zu den britischen Kronjuwelen wanderte.
Der Diamant aus dem Bodensee besaß die Form einer Träne. Der Name Seeträne lag daher nicht fern. Als genauer Fundort wurde der Teufelstisch angegeben. Dieser ungewöhnliche und bedrohliche Name kam nicht von irgendwoher: Der Teufelstisch war eine unter Wasser liegende Felsformation des Bodensees. Viele Taucher waren dort ertrunken. Die steilen Felswände sorgten für eine gefährliche Orientierungslosigkeit. Zwischen der Marienschlucht und Wallhausen bildete ein gigantischer Gesteinszacken ein Plateau, von dem aus man den Teufelstisch sehen konnte.
Zu dem Zeitpunkt, als ich von der Seeträne erfuhr, befand sie sich noch in wissenschaftlicher Inspektion. Wochen später sollte der Diamant im Archäologischen Landesmuseum Konstanz ausgestellt werden.
*
Bereits einige Nächte nach den aufwühlenden Ereignissen auf dem Dachboden hatte ich wieder diesen Traum. Ich stand auf einer endlosen Wiese. Um mich herum waren Menschen, die für das riesige, metallische Objekt am Himmel etwas suchten. Wieder stach plötzlich dieser fremde Mann aus der Masse hervor. Die altmodische Kleidung, der graue Bart, die große Brille und der Zylinder kennzeichneten ihn eindeutig als Raphael. Er ging auf mich zu. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Finn sagte mir, dass er uns immer nur geholfen hatte. Wenn mein Bruder diesem Geschöpf vertraute, dann wollte ich das auch tun. Raphael ergriff meine Hand. Die Menschenmassen um uns herum bemerkten uns nicht. „Das nicht von ihm entdeckt werden, hat höchste Priorität!“
Ich wusste sehr gut, wen oder was Raphael meinte. Die Rede war von der großen Metallkugel am Himmel, die ihre feinen Sensoren über das ganze Land ausstreckte. Es war schwierig, dieser finsteren Macht zu entgehen. Doch mein geheimnisvoller Helfer wusste einen Ausweg. Er führte mich durch die emotionslos wirkende Menschenmenge hindurch, bis wir vor einer Höhle standen, die wie aus dem Nichts aus der Wiese hervorstach. Hatte Raphael den Eingang entstehen lassen? Wir gingen hinein.
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