Auch von innen hatte Onkel Elmar es liebevoll eingerichtet. In der Mitte stand ein kleiner Tisch. An der Wand befand sich ein Regal, das mit ein paar Plastiktellern und Tassen ausgestattet war. Mit einem Flaschenzug, an dem ein Eimer befestigt war, konnte man kleinere Gegenstände rauf- und runterziehen. Sogar an eine Truhe hatte Elmar gedacht, in der wir Kinder unsere geheimsten Gegenstände verstauen konnten. Das solide Eichenholz, aus dem das Baumhaus angefertigt war, führte dazu, dass man sich sicher fühlte.
Nachdem wir das Werk unseres Onkels genaustens inspiziert hatten, aßen wir im Haus Elmars Torte. Wir aßen alle zu viel. Jedenfalls war nicht mehr viel von der Torte übrig, als wir fertig waren. Ich weiß nicht, ob mir jemals zuvor so schlecht gewesen war. Elmar hatte sich voll und ganz Zeit für uns genommen. Er spielte mit uns Verstecken, gab seinen Rücken für ganze Huckepack-Rundgänge her und er erlaubte uns sogar, das halbe Mobiliar im Haus umzustellen, damit sich eine Couch besser als Insel und so mancher Schreibtischstuhl besser als Boot eignete.
Gegen Mittag musste Onkel aber noch einigen Verpflichtungen bezüglich des Hofs nachgehen, weshalb er uns für mehrere Stunden alleine ließ. Wir saßen ungeduldig und leicht erschöpft vom Vormittag am Tisch. Mein Bruder war dabei, seine neue Taschenuhr hin und her zu pendeln. In seinen Augen lag eine verborgene Trauer. Sie kämpfte mit dem Glück, das der schöne Tag bisher hervorgebracht hatte.
„Was ist los?“, fragte ich Finn schließlich.
Er blickte zu mir auf. Seine großen, braunen Augen hatten noch nicht entschieden, ob sie mir vertrauen wollten.
„Finn, bitte, ich bin deine große Schwester. Ich würde sehr gerne erfahren, was dich bedrückt.“
Auf den Lippen meines Bruders zeichnete sich ein Lächeln ab. Er war froh, dass ich endlich darum bemüht war, meinen Platz in seinem Leben einzunehmen. „Ach, Elli, ich habe dir so vieles noch nicht erzählt!“
Ich nahm seine Hand. „Was auch immer du für eine Bürde trägst, lass mich dir etwas davon abnehmen!“
„Raphael ist gegangen!“ Diese Worte kamen meinem Bruder nur schwer über die Lippen.
Aus irgendeinem Grund schockierte auch mich seine Aussage. „Wie meinst du das: Er ist gegangen?“
„Raphael hatte es mir immer wieder gesagt ...“, antwortete Finn. „Er würde nur bis zu meinem siebten Lebensjahr in der Lage sein, mir zu helfen. Und jetzt ist er tatsächlich weg. In keinem Element vermag ich ihn noch zu erblicken ...“
Ich nahm meinen Bruder in den Arm. „Wobei wollte er dir denn helfen?“, fragte ich Finn.
Sein Blick wanderte verträumt zu jenem Fenster, das die Sicht auf unser Grundstück preisgab. Es war stürmisch draußen. Der Wind bog die Äste der Bäume durch und die Schaukel in unserem Garten wippte hin und her. Dahinter war Onkel Elmar zusammen mit zwei Aushilfskräften zu sehen. Sie beackerten eines der Felder.
„Wobei wollte Raphael dir helfen?“, fragte ich noch einmal.
Etwas lastete schwer auf der Seele meines Bruders. Er sah mich mit seinen verträumten Augen an. Nein, er sah mich nicht nur an. Er blickte bis in mein Innerstes hinein. Doch dieses Mal blieb ich stark. „Ich denke, es ist das Beste, wenn ich es dir zeige!“ Kaum hatte er dies gesagt, ging er entschlossen die Treppen hinauf. Ich folgte ihm. Wir blieben vor dem Dachboden stehen.
„Ich dachte die ganze Zeit über, dass Raphael uns beschützen wollte. In Wahrheit gibt es dort oben eine Aufgabe, die erfüllt werden muss.“ Finn hielt kurz inne und schluckte. Dann blickte er mich flehend an. „Alleine bringe ich nicht den Mut auf, nach dem zu suchen, was Raphael mir aufgetragen hat.“ Finn streckte mir seine Hand entgegen. „Hilfst du mir?“ Seine Stimme zitterte vor Furcht.
Es war erstaunlich, welchen Mut mein kleiner Bruder bereits mit seinen sieben Jahren aufbringen konnte. Er hatte wohl so vieles mehr gesehen als wir anderen. Er nahm Dinge wahr, die niemand sonst sehen konnte. Teilweise waren es Dinge, bei deren Anblick selbst der mutigste Erwachsene den Verstand verloren hätte. Ich ahnte irgendwie schon damals, was auf mich zukommen würde. Dennoch ergriff ich an diesem Tag die Hand meines Bruders. Er sollte seine schwere Bürde nicht alleine tragen müssen. Das hatte er nicht verdient. So kam es, dass wir tatsächlich noch einmal diese Treppenstufen hinaufgingen. Die furchtbaren Erinnerungen kamen wieder hoch. Jeglicher Kontakt zu Daiki wurde mir seit dem Vorfall, als sie auf diesem verfluchten Dachboden mit etwas Unaussprechlichem konfrontiert worden war, von ihren Eltern verweigert. Was hauste hier oben, das so schlimm sein konnte?
Die Tür knarrte, als ich sie öffnete. Finns Hände umklammerten die meinen mit festem Druck. Es wirkte alles ruhig. Das kleine Kästchen lag noch immer an der Stelle, wo Daiki es zurückgelassen hatte. Langsamen Schrittes gingen wir auf das Behältnis zu, als wäre es ein schlafendes Raubtier, das wir unter keinen Umständen wecken sollten.
Vorsichtig nahm Finn das Kästchen in die Hand. „Es ist aus Ebenholz“, sagte er verblüfft. „Weißt du, welche Wirkung man diesem edlen Material nachsagt?“ Ich schüttelte den Kopf. In flüsternder Stimme, so als würde er ein Geheimnis ausplaudern, das niemand erfahren durfte, klärte Finn mich auf. „Es gibt eine Welt, hinter der unseren. Die beiden Welten verfließen miteinander. Nur Ebenholz hat einen festen Stand. Es verhält sich wie eine Mauer, welche die Welten nicht überwinden können.“
Ich musste nicht nachfragen, welche andere Welt Finn meinte. Obgleich ich nichts über sie wusste, glaubte ich, sie auch selbst schon gesehen zu haben. „Wer sind sie? Was für ein Wesen ist das, welches nur von Ebenholz in Schach gehalten werden kann?“
Finn sah mich konzentriert an. Dann wanderte sein Blick auf das Kästchen in seinen Händen. Mit nur einem Wort beantwortete er meine Frage. Doch dieses eine Wort besaß eine unglaubliche Kraft.
Wenn man die Wahrheit hinter diesem Begriff zu verstehen beginnt, lässt es sich fast nicht mehr aussprechen. Denn sie sind überall und es ist gefährlich, ihren Namen zu nennen.
„Dämonen ...“
Zuerst zögerte ich, doch dann bat ich Finn, mir das Ebenholzkästchen zu reichen. Allen Mut zusammennehmend, öffnete ich das Behältnis. Beinahe enttäuscht musste ich feststellen, dass es leer war. Es war mit einem roten Samtstoff ausgekleidet. „Wie ich schon gesagt habe: Nur der Brief von Papa befand sich darin.“
Finn nahm mir das Kästchen aus der Hand. Als hätte er es gewusst, entfernte er den roten Boden. Tatsächlich verbarg sich dahinter etwas. Es war so gut versteckt, dass unsere Eltern wohl nicht gewollt hatten, dass es gefunden wird.
Finn als auch ich konnten unsere Augen nicht mehr davon nehmen. Es glänzte und funkelte. Mein Bruder hielt einen Diamanten in der Hand. Er hatte die Form einer flachen Scheibe, auf der sich reliefartig ein Sechsstern abhob. Das wertvolle Mineral war von hellblauer Farbe, durchscheinend, als wäre der Himmel darin gefangen. Die Form war für einen Edelstein jedoch sonderbar. Beinahe konnte man glauben, dass er die Funktion eines Amulettes übernahm. Selbst der Great Star of Africa, der sich im Krönungszepter des britischen Königshauses befindet, konnte nicht schöner aussehen. Dieser Diamant konnte einfach keine Fälschung sein.
Ich entflammte in bedingungsloser Euphorie. „Wir müssen diesen Stein Onkel Elmar zeigen!“, sagte ich. „Wir sind reich!“ Ich riss Finn den Diamanten aus der Hand, sprang auf und wollte den Dachboden verlassen.
Doch Finn hinderte mich daran. Er hielt mich am Handgelenk fest. „Nein, Onkel Elmar darf nichts von alledem erfahren und dieser Edelstein wird uns auch nicht reich machen!“ In der Stimme meines Bruders lag ein energischer Nachdruck. Er sah mich entschlossen an. „Dieser Diamant ist böse! Er darf unter keinen Umständen mit den Menschen in Berührung kommen!“
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