Raphael befand sich dicht neben mir. „Die von ihm hier gelebte Zeit dauerte recht lang“, sagte er fast beiläufig.
Ich blickte Raphael in die Augen. Was besaß dieser Mann bloß für eine eigenartige Formulierung. „Wen meinst du? Wer will an diesem Ort leben? Doch nicht Finn, oder?“
Raphael schüttelte nachdenklich den Kopf. „Der Umstand des noch niemals hier Seins deines Bruders ist die Antwort auf deine Frage.“ Kaum hatte Raphael seinen Satz beendet, ergriff er meine Hand. Noch im selben Moment befanden wir uns an einem anderen Ort.
Um mich herum formten sich in den Himmel ragende Mauern aus purem Kristall. Gebäudeartige Strukturen untermalten das Bild. Auch sie bestanden aus leicht transparentem und strahlendem Erz. Mir war bewusst, dass ich mich in jener fremdartigen Stadt befand, die ich eine Sekunde zuvor noch aus der Ferne gesehen hatte. Doch diese Metropole aus Edelstein war leer. Kein Leben war in ihr zu erkennen. Niemand befand sich auf den Straßen – außer Raphael und mir. Er führte mich durch die Gassen, bis wir vor den Stufen eines gewaltigen Tempels standen. Über den Treppen, die auf das Podium des Prachtbaus führten, ragten gigantische Säulen empor, die ein Gebälk und ein Satteldach trugen. Die gesamte Konstruktion schien aus purem Glas zu sein, ähnelte aber in ihrer Architektur den Göttertempeln der römischen Antike. Raphael führte mich die Treppenstufen hinauf. In der Cella des Gebäudes befanden sich Statuen von Engeln.
Am Ende des Raumes stand eine große, sechseckige Tafel. Auch sie bestand aus purem Diamant. Darauf lag ein altes, in Leder gebundenes Buch. Es war riesengroß, nicht viel kleiner als mein Kinderkörper, den ich damals noch besaß. Der Einband wurde durch sieben massive, rostige Schlösser zusammengehalten. Raphael verlangte von mir, das Buch zu betrachten. Sieben Einkerbungen waren auf den Schlössern zu sehen. Bis auf die siebte waren sie alle rund. Irgendetwas musste sich in ihnen befunden haben. Vielleicht waren es Schlüssellöcher. Die Schlüssel fehlten jedoch.
„Dieses als Kodex bezeichnete Buch“, sagte Raphael mit ruhiger Stimme, „ist durch das Fehlen der sich einst in den Öffnungen befundenen Diamanten fest verschlossen.“
Mein Begleiter musste nichts weiter sagen. Ich stahl ihm die weiteren Worte. „Der Diamant aus dem Ebenholzkästchen, er ist einer von ihnen.“
„Korrektheit!“, antwortete Raphael.
Diese Information löste Panik in mir aus. Finn hatte mich vor diesem Stein gewarnt und ich konnte nun erahnen, dass er mit allem recht gehabt hatte.
„Durch den sich auf alle wie eine Pest übertragenden Neid innerhalb des Steines“, fuhr Raphael fort, „ist es ein verseuchtes und überaus gefährliches Artefakt.“
Nun verstand ich es. Es war der Diamant, der aus mir gesprochen hatte. Finn wusste, dass es nicht meine Schuld gewesen war. Mir wurde aber auch klar, in welche Gefahr ich meine Familie gebracht hatte. Onkel Elmar war nun im Besitz des Steines. Sein Verstand musste bereits manipuliert worden sein, genau wie es bei mir der Fall gewesen war. Wir brauchten Hilfe in dieser Sache, und als ich diese von Raphael erbitten wollte, fiel mir wieder ein, was Finn zu mir gesagt hatte. „Warum hast du meinen Bruder verlassen? Er braucht deine Hilfe.“
Raphael reagierte mit ruhiger Bestürzung auf meinen Vorwurf. Doch in seinem traurigen Blick war zu erkennen, dass er keine Wahl hatte. „Die Regel der Begleitung eines Zeugen bis einschließlich des siebten Lebensjahrs kann auch ich nicht umgehen. Passive Hilfen in Situationen der Not sind alles, was ich noch aufbringen kann. Die durch mein in den Hintergrund Treten herbeigeführte Leere, muss durch dich wieder gefüllt werden.“ Raphael war gerade dabei, mir eine Bürde aufzuerlegen, die ich unmöglich tragen konnte. Denn all dies entzog sich meinem Verstand.
„Ich kann ihm nicht helfen!“, erwiderte ich. „Ich habe ihn bisher immer nur ...“ Ich kam nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden. Raphael ging einen Schritt auf mich zu. Dann drückte er mir seine offene Handfläche auf die Stirn. Ich erwachte aus dem Traum. Ich war schweißgebadet und mein Herz pulsierte wie ein Presslufthammer. So war es stets, wenn dieser Traum in mein Leben kam. Er war wie ein Buch, das mir immer mehr Seiten offenbarte. Erschöpft schloss ich die Augen. Ich ließ mich in mein Bett zurückfallen.
*
Am nächsten Tag erwachte ich durch lautes hysterisches Geschrei und die Geräusche zerbrechender Möbel. Glas zerschellte durch heftige Wucht. Es war mein Onkel. Ich sah auf meinen Wecker. 08:54 Uhr war es. Normalerweise weckte Elmar meinen Bruder und mich immer rechtzeitig, damit wir um Punkt 09:00 Uhr im Gottesdienst sein konnten. Noch nie zuvor hatte mein Onkel das vergessen. Mir war bewusst, dass hier irgendwas gewaltig nicht stimmte. Ich zuckte zusammen, als das hysterische Brüllen von Elmar erneut ertönte.
„WO IST DIESER VERDAMMTE STEIN?“
Auf der Suche nach dem Diamanten stellte er die Wohnung auf den Kopf und zerlegte sämtliches Mobiliar. Ich wusste sofort, was geschehen war. Finn hatte versucht, die Situation geradezubiegen, in die ich uns alle überhaupt erst gebracht hatte. Ich lief sofort in sein Zimmer, wo sich meine Vermutung bestätigte. Er saß mit dem Ebenholzkästchen auf dem Bett. Er versuchte, es vor mir zu verstecken.
„Nein, es ist okay“, beschwichtigte ich ihn. „Ich weiß jetzt, dass du recht gehabt hast! Dieser Diamant ist gefährlich ...“
Mein Bruder sah mich verwirrt an. Seine dunkelbraunen Augen verstanden nicht, wie ich von meiner Besessenheit geheilt werden konnte.
„Es war Raphael. Es tut mir so unendlich leid, Finn ...“ Ich versuchte, auf meinen Bruder zuzugehen, doch er wies mich ab mit einer Geste, die keinen Zweifel zuließ.
„Das Letzte, was Raphael mir sagte, bevor er mich verließ, war, dass ich dich einweihen solle. Er sagte, dass du mich in meiner Aufgabe unterstützen wirst. Dann habe ich dir den Stein gezeigt und er hat sofort Besitz von dir ergriffen.“ Finn schüttelte bloß den Kopf. Dieses einschneidende Erlebnis hatte ihn verändert. „Es tut mir leid, Elli! Ich muss diese Bürde alleine tragen!“
Tatsächlich glaubte ich, dass er recht hatte. Ich war seiner Aufgabe nicht würdig.
Durch den Boden drang noch immer das wütende Geheul von Onkel Elmar. Innerhalb von 24 Stunden hatte dieser Stein seine Persönlichkeit komplett verändert. Er wurde indoktriniert. Nachdem er den Diamanten in der unteren Etage nicht finden konnte, stapfte er wütend die Treppe hinauf. Hastig wendete ich mich an Finn. „Weg mit dem Stein und dem Kästchen, sofort!“
Finns Blick wanderte durch das Zimmer. Es gab kein gutes Versteck für einen solch gefährlichen Gegenstand. Als Onkel Elmar nur noch wenige Schritte entfernt war, schleuderte Finn das Kästchen, ohne weiter darüber nachzudenken, aus dem Fenster. Ein großer Dornenbusch und allerlei anderes Gestrüpp befanden sich unter seinem Zimmer. Die Idee war also gar nicht dumm. Elmar würde den Stein nicht sofort finden.
Als er im Türrahmen stand, lief mir ein grausiger Schauer über den Rücken. Sein sonst so freundliches Gesicht war von Wut durchzogen. Mein Bruder und ich rührten uns keinen Zentimeter. Elmar analysierte die Lage. Dann wanderte sein Blick zu mir. „Was habt ihr hier gemacht?“, fragte er mich in einem Ton, der drohender nicht hätte sein können.
„Wir haben uns nur gewundert, dass du uns nicht geweckt hast“, antwortete ich mit einem Puls, der meine Stimme zittern ließ.
Es war nicht schwer, zu erkennen, dass ich gelogen hatte. Elmar setzte zwei weitere Schritte in das Zimmer. „Der Diamant ist weg! Er ist weg!“ Er klang so wütend. Sein Blick wanderte jetzt langsam zu Finn herüber.„Du glaubtest gestern noch, dass der Edelstein dunkle Kräfte besitzt. Konntest du dich von deinen Kindheitsfantasien losreißen!“ In Onkel Elmars Stimme lag ein drohender Unterton.
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