Nie zuvor war ich so sauer auf Onkel Elmar gewesen. Ich konnte nicht verstehen, wie er uns so etwas vorenthalten konnte. „Wieso hast du uns nichts von diesen Sachen erzählt?“
„Elli, bitte glaube mir“, sagte Onkel Elmar, „ich wollte nicht, dass ihr an den Verlust erinnert werdet. Meiner Meinung nach war die Zeit dafür einfach noch nicht reif. Wenn ihr alt genug seid, dann dürft ihr die Sachen haben. Das meiste sind wahrscheinlich Klamotten ... Ich weiß nicht, ob ihr dort etwas findet, was von Wert ist.“
Finn blieb während der gesamten Auseinandersetzung ruhig. Ich hingegen war am Explodieren. „Was von Wert ist? ALLES VON UNSEREN ELTERN IST VON WERT!“, schrie ich ihn an. Dann sprang ich auf und rannte hoch in mein Zimmer.
Ich saß auf meinem Bett. Tränen flossen über meine Wangen. Das Trauma meiner Kindheit war wieder präsent. Meine Eltern waren im Wattenmeer ertrunken, das hatte ich schon erwähnt. Aber unter welchen Umständen das Ganze geschehen war, das habe ich noch nicht erzählt. Genau genommen stammt auch alles, was ich weiß, aus Erzählungen. Finn und ich waren zu diesem Zeitpunkt ja bei Onkel Elmar. So viel mir bekannt ist, sollte es ein normaler Urlaub auf der Insel Föhr werden. Mama und Papa hatten in ein Hotel der Gemeinde Nieblum eingecheckt. Die beiden nahmen an einer Wattwanderung von Föhr nach Amrum teil. Sie gehörten zu einer Gruppe von Touristen, die einen Leiter hatte, der sich im Watt gut auskannte. Wie konnten sie also ertrinken? Der Leiter sagte nach dem tragischen Vorfall, dass meine Eltern plötzlich nicht mehr bei der Gruppe waren. Sie suchten sie, solange sie konnten, aber die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Als das Wasser wieder stieg, war die Gruppe gezwungen, ihren Marsch fortzusetzen. Wie konnte so etwas nur geschehen? Ihre Leichen wurden nie gefunden.
Und auf einmal erfuhr ich davon, dass es Dinge gab, die sie hinterlassen hatten. Ich war sauer auf Onkel Elmar, dass er mir das vorenthalten hatte.
Daiki kam nach oben und nahm mich in den Arm. Sie war verständnisvoll. Das war ihre größte Gabe, wenn man ihr damaliges Alter in Betracht zieht. „Ich denke, dein Onkel wollte dich mit Sicherheit nicht verletzen. Er dachte, es wäre besser so, und beschloss deshalb, dich vorerst nicht mit der Vergangenheit zu konfrontieren.“
Eine Weile saß Daiki neben mir und tröstete mich. Irgendwann hatte ich mich beruhigt. Schließlich war ich sogar bereit, mich mit Onkel Elmar auszusprechen. Wir setzten uns alle gemeinsam ins Wohnzimmer, Daiki, Finn, Onkel und ich. Das Resultat des Gesprächs war, dass wir alle gemeinsam auf den Dachboden gehen wollten, um nachzusehen, was unsere Eltern Finn und mir hinterlassen hatten. Onkel Elmar sah ein, dass die Zeit dafür reif war.
Natürlich fürchtete ich mich noch immer vor dem Dachboden. Dennoch wollte ich es. Vielleicht würde ich endlich meine Ängste ablegen können.
Es war später Nachmittag. Dämmriges Licht fiel durch die Fenster. Das Holz knarrte, als wir langsam die Stufen hinaufstiegen. Onkel Elmar ging voran. Er öffnete die Tür zum Dachboden. Ein modriger Geruch drang uns entgegen. Lange Zeit war niemand hier oben gewesen. Nun, wo ich den Dachboden sah, wirkte er überhaupt nicht mehr bedrohlich. Die Etage stand beinahe komplett leer. In einer Ecke befand sich ein altes Sofa, das mit einem rot karierten Stoff überzogen war. Daneben waren viele Kartons. Alles war verstaubt und überall hingen Spinnennetze von der Decke.
„Dann sehen wir mal nach, was wir hier so haben ...“, sagte Onkel Elmar. Sofort stürmten Daiki und ich zu den Kisten hinüber. Finn war viel zaghafter. Ihn schien dieser Ort immer noch zu beunruhigen. Als wären es Weihnachtsgeschenke, kramten meine Freundin und ich in den Kartons herum. Wir waren begeistert. Kleider waren darin.
„Die meisten Möbel eurer Eltern bin ich losgeworden, aber ihre Klamotten liegen seit ihrem tragischen Unfall immer noch hier oben herum.“ Elmar klang zufrieden, glücklich darüber, dass der Streit vom Nachmittag vergessen war. Als er sah, wie vergnügt wir waren, wollte er uns alleine lassen.
Doch Finn hielt plötzlich seine Hand fest. „Darf ich mitkommen? Ich mag es hier oben nicht!“
Onkel Elmar beugte sich daraufhin zu ihm herunter. „Ach, Finnchen, ich muss doch noch mal auf den Hof. Es steht heute noch Arbeit an. Wenn du nicht bei deiner Schwester und Daiki bleiben willst, musst du in dein Zimmer gehen.“ Die Stimme von Onkel Elmar klang sanft und gutmütig.
„Dann gehe ich in mein Zimmer ...“, sagte Finn.
„Du bist ein Angsthase!“, rief ich ihm nach.
Daiki und ich hatten eine Menge Spaß. Wir verkleideten uns. Die Kleider meiner Mutter waren mir natürlich viel zu groß, aber das störte mich nicht. Der Größe nach zu urteilen, musste sie eine schlanke Frau gewesen sein. Daiki zog einen alten Anzug an, in den sie wahrscheinlich zehnmal hineingepasst hätte. Wir spielten Ehemann und Ehefrau, tollten herum und sprangen vom Sofa aus in leere Kartons hinein.
Nach einer Weile entdeckte ich etwas Merkwürdiges. Unter den vielen Kartons lag ein kleines Schmuckkästchen aus dunklem Holz. Das Behältnis sah sehr kostbar aus. Als ich es öffnete, lag ein Schreiben darin. Das vergilbte Papier war durch ein Wachssiegel verschlossen. Ich brach es auf. Es waren offenbar Anweisungen, handschriftlich verfasst.
Schützenstraße 84, 35396 Gießen
den 27.05.1978
Geehrter Kreis, aufgrund aktueller Nachforschungen kann festgehalten werden, dass unsere Identitäten noch immer sicher sind. Ein Wechsel ist demnach nicht erforderlich. Wir werden vorerst in Deutschland bleiben. Was die erwähnten Personen betrifft, leite ich im Auftrag eures Großmeisters folgende Order weiter:
Eckhard Dogmann – Er ist gefährlich. Er wird nicht nachgeben, ehe er nicht seine Rache bekommen hat. Die Befehle lauten vorerst, ihn zu beobachten. Er ist ein Dummkopf. Es sollte nicht schwer sein, sich vor ihm zu verstecken.
Prof. Dr. Leonard Grakus – Er ist ein Freund. Dennoch möchte ich, dass er einmal gründlich unter die Lupe genommen wird. Diskret, versteht sich.
Schattenschwarz – Helena ist diesem Wesen begegnet, als es sich einen Weg in unsere Welt gebahnt hat. Wir dachten, es sei gefährlich. Aber ehrlich gesagt, haben wir überhaupt nichts mehr von diesem in Leinen gehüllten Schatten gehört. Er ist untergetaucht. Solltet ihr Hinweise erhalten, die auf den Verbleib von Schattenschwarz hindeuten könnten, versteht es sich von selbst, Helena oder mir diese Informationen auf dem schnellsten Wege mitzuteilen.
Raphael – Er ist definitiv wieder da. Aber wo?
Ich verbleibe mit den besten Grüßen und zum Wohl des Widerstands,
Christoph Magoi.
Der Brief verwirrte mich. Er enthielt Befehle. Mein Vater war ein stinknormaler Geschichtsprofessor gewesen. Wer war dieser Kreis, der diese ominösen Befehle angeblich entgegennahm? Ein Widerstand? Gegen wen – oder was? Die Information, die mich am meisten aufstoßen ließ, war der Name, der an letzter Stelle stand: Raphael. Es jagte mir eine Heidenangst ein, dass ich schon wieder über diesen Namen stolperte. Bisher hatte ich noch versucht, mir einzureden, dass dieser Mann nur eine Kindheitsfantasie war. Jetzt war das nicht mehr möglich. Es konnte eine logische Erklärung dafür geben. Vielleicht hatte Finn den Namen bereits als Baby unterbewusst aufgeschnappt und jetzt war er wieder an die Oberfläche gekommen. Vielleicht war das seine Art, die Familientragödie, die uns ereilt hatte, zu bewältigen. Möglicherweise bekam er bereits als Baby genug von dem Drama mit.
Das Schreiben fest in meinen Händen rannte ich die Treppe des Dachbodens hinunter. „Ich bin gleich wieder da!“
Als ich Finns Zimmer betrat, saß er zusammengerollt in der Ecke. Er zitterte am ganzen Leib. Besorgt beugte ich mich zu ihm herunter. „Finn, was ist denn los?“
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