„Finn, es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.“ Der Lockenkopf befreite sich trotzig aus meinem Griff und ging. „Ich habe Raphael womöglich auch gesehen!“, sagte ich hastig hinterher.
Mein Bruder drehte sich zu mir um und wirkte irritiert. „Das kann nicht sein! Nur ich kann ihn sehen!“
Als ich Finn daraufhin von meinem merkwürdigen Traum erzählte, hatte ich das Gefühl, ihm damit irgendein Puzzleteil zuzuspielen. Er verstand jetzt etwas Grundlegendes, etwas, dass ich noch lange nicht begreifen würde. Schweigend setzten wir uns in die Mercedes E-Klasse von Onkel Elmar. Der grüne Lack des alten Pkw blätterte bereits ab. Wie jeden Tag fuhr Elmar uns zur Schule.
Das folgende Wochenende verlief ruhig, abgesehen davon, dass zwischen Finn und mir dicke Luft herrschte. Am Sonntagmorgen fuhren wir in die Kirche. Wir gehörten zur katholischen Münstergemeinde St. Nikolaus. Eine Viertelstunde musste für die Fahrt eingeplant werden, nicht mehr. Elmar fand, dass das Überlinger Münster die prächtigste Kirche in unserer Region war.
„Nach dem Gottesdienst werde ich mir mal die Leitungen ansehen. Auch wenn der Elektriker keinen Schaden feststellen konnte, gehe ich lieber noch einmal auf Nummer sicher“, sagte Onkel Elmar, während er sich auf die Straße konzentrierte. Finn und ich gingen nicht auf den Gesprächseinstieg ein. Wir schwiegen und blickten aus dem Fenster des Autos. „Na hört mal: Diese Nacht macht euch immer noch zu schaffen, oder?“, fragte Elmar in den Rückspiegel guckend.
„Auf der Treppe zum Dachboden saß keine Katze! Es war etwas anderes“, erwiderte ich schmollend.
Elmar schüttelte den Kopf. „Was soll es denn bitte gewesen sein? Ich habe euch schon oft gesagt, es gibt keine Geister oder Monster. Wenn da also etwas war, dann kommt nicht allzu vieles dafür infrage.“
Den Rest der Fahrt schwiegen wir.
Das Münster St. Nikolaus von Überlingen war ein prächtiges Gebäude. Die fünfschiffige Basilika wurde wohl im 14. Jahrhundert erbaut. Der spätgotische Stil der Kirche beeindruckte jedes Jahr von neuem die Touristen. Vor allem der Innenraum mit Blick Richtung Hochaltar, der vom Bildhauer Jörg Zürn errichtet wurde, vermochte einen durch seine hohen und verzierten Decken zu begeistern. Der Altar selbst entstand Anfang des 17. Jahrhunderts und galt als ein bedeutendes Werk der Spätrenaissance. Der Leiter dieser wundervollen Kirche war Pastor Sampson, ein gutmütiger Mann. Sein kurzes, katholisch gesittetes Haar war der Deckel zu einem kugelrunden Gesicht. Seine enorme Körperfülle verdankte er seinem ungezügelten Appetit. Jedes Restaurant in Überlingen kannte ihn nur zu gut. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er alle Speisekarten der Stadt auswendig kennen würde. So wie er aber als Feinschmecker einen offenen Mund für alles Essbare hatte, besaß er ein offenes Ohr für alle Mitglieder seiner Gemeinde. Ich mochte Pastor Sampson.
Im Gegensatz zu mir ging Finn nicht gerne in den Gottesdienst. Ich glaube sogar, dass er sich regelrecht vor der Kirche fürchtete. Jedes Mal saß er mit gesenktem Kopf auf der harten Beichtbank. Bei keinem Lied sang er mit und während die anderen das Vaterunser sprachen, schwieg er.
Pfarrer Sampson hielt an diesem Sonntag eine Predigt über David und Goliath. Er wollte anhand dieses biblischen Beispiels aufzeigen, dass man alles schaffen kann, auch wenn es noch so schlecht für einen aussah. An jenem Tag standen Finn und ich erst ganz am Anfang der schwierigen Aufgaben, die uns noch bevorstehen würden. Dennoch hatten die letzten Ereignisse meiner Psyche schwer zugesetzt. Deshalb blieb ich nach dem Gottesdienst noch etwas in der Kirche. Ich suchte den Rat von Pfarrer Sampson. Finn und Elmar warteten draußen. Zumindest Onkel hatte Verständnis dafür, dass ich mich der Kirche öffnete.
Der dicke Mann stand vor dem prächtigen Altar. Er lächelte mich an. „Was hast du auf dem Herzen, mein Kind?“ Seine auffällig hohe Stimme klang fürsorglich.
„Was bedeutet die Zahl Sieben für das Christentum?“
Pfarrer Sampson kratzte sich stirnrunzelnd den Kopf. Er hatte wohl erwartet, dass ich ihm mein Herz ausschütten würde. Dennoch gab er mir eine ausführliche Antwort. „Nun, Elisabeth, die Sieben setzt sich zusammen aus der Drei und der Vier. Die Drei steht gleichwohl für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist. Die Vier spiegelt hingegen die vier Elemente wieder. Wasser, Feuer, Wind und Erde – ohne diese Naturgewalten gäbe es für uns Menschen kein Morgen und kein Gestern. Was also bedeutet die Sieben für dich?“
Ich brauchte einen Moment, um auf die Frage des Pastors richtig eingehen zu können. „Wenn diese Zahl die vier Elemente und die Dreieinigkeit verbindet, dann steht sie für das Leben an sich. Sie scheint beinahe das Leben selbst zu verkörpern.“
Als der Pastor sah, wie sehr mich diese Antwort schockierte, kniete er sich nieder, um auf gleicher Augenhöhe mit mir zu sein. „Dein Onkel hat mir von Finns Verhalten erzählt. Aber dein Bruder ist noch ein kleiner Junge. Gib ihm etwas Zeit. Ich bin mir sicher, dass er sich prächtig entwickeln wird.“
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Sampson auch von unserem Dachboden zu erzählen. Doch mich überkam das Gefühl, er würde mir nicht helfen können.
In den folgenden Wochen wurde das Verhältnis zu meinem Bruder zusehends schlechter. Er vertraute mir nicht mehr. Meine ständigen negativen Reaktionen auf seine Beobachtungen und Entdeckungen hatten seine Kinderseele schwer getroffen. Doch das Band zwischen Finn und mir war zu stark, als das es sich durch eine schwere Phase hätte zerreißen lassen können. Ich erinnere mich genau an den Tag, als die Verhärtung unserer Fronten ihren Höhepunkt erreichte. Meine Freundin Daiki war nach der Schule mit zu mir gekommen. Finn besuchte inzwischen die erste Klasse. Als wir mit dem Schulbus nach Hause fuhren, setzte er sich so weit weg von mir, wie er konnte.
Meine Freundin saß neben mir. Sie bemerkte sofort, dass zwischen mir und meinem Bruder etwas nicht stimmte. „Bist du irgendwie sauer auf Finn?“, tastete sie sich heran. Daiki war schon damals eine echte Freundin. Mein Wohlergehen lag ihr am Herzen.
„Ach ... er erzählt immer dummes Zeug und er ist jetzt sauer, weil ich ihm nicht jedes Wort glaube!“ Im Folgenden erzählte ich Daiki im Bus lauthals von Finns sieben Wächtern und von Raphael. Nur den Dachboden erwähnte ich nicht, dafür war ich zu feige.
Als wir am Hof meines Onkels ankamen, warteten wir wie gewohnt bis 14:30 Uhr auf das Mittagessen. Daiki kam oft nach der Schule mit zu mir, weil ihre Eltern durch ihr Restaurant so eingebunden waren, dass sie kaum Zeit für sie hatten.
An diesem Tag bekam Finn keinen Bissen runter. Er war sichtlich bedrückt.
„Was ist denn los, Finn? Haben sie dich in der Schule wieder geärgert?“, fragte Onkel Elmar besorgt.
Mein Bruder schüttelte bloß den Kopf. Nach einer Weile sprach er über ein Thema, dass ich am liebsten verdrängt hätte. „Onkel, was befindet sich eigentlich auf dem Dachboden?“
Ich hasste dieses Thema. Es war schlimm genug, dass mein Zimmer direkt am Aufgang zu dieser unheimlichen Etage lag. Onkel Elmar wirkte erstaunt. Doch bevor er etwas sagen konnte, giftete ich meinen Bruder an. „Warum fragst du nicht deinen Freund Raphael? Ich dachte, der weiß alles ...“ Ich konnte es in Finns Augen sehen. Er hielt es kaum noch aus, dass ich nicht auf seiner Seite stand.
Onkels Blicke wanderten zu mir. Ein Vorwurf lag in seinem Gesichtsausdruck. „Elli, du könntest wirklich netter zu deinem Bruder sein!“, sagte er. Dann wandte er sich liebevoll Finn zu. „Nun ... auf dem Dachboden ist eigentlich nichts Besonderes.“ Doch kaum hatte er seinen Satz beendet, fiel ihm etwas ein. Es war ein Gedanke, der schwere Erinnerungen mit sich brachte. Er kam so plötzlich in ihm auf, dass man fast glauben mochte, er wäre ihm erst in diesem Augenblick eingeflößt worden. „Eigentlich wollte ich euch das erst später sagen, wenn ihr alt genug seid für dieses Thema. Auf dem Dachboden befinden sich Kisten, Hinterlassenschaften eurer Eltern. Die meisten Sachen sind nach ihrem Tod allerdings weggekommen. Das, was sich auf dem Dachboden befindet, sind nur ein paar Reste.“
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