»Was ist mit dem zweiten Bus?«, sagte Sito laut vor sich hin. »Was ist mit dem zweiten?«, wiederholte er. Die Gruppe wurde umringt von Polizisten und zum Gebäude geführt. »Was ist mit dem zweiten Bus?«, schrie Sito. Er beobachtete die Szene, starrte zum zweiten Bus, der nach wie vor einfach nur dastand. Die Menschen klopften gegen die Scheiben, als würden sie um Hilfe rufen, sie hielten sich die Hände vors Gesicht, und Sito meinte, einige weinen zu sehen.
Busch kam zu ihm. »Was ist da los?«
Beide starrten sie gebannt auf die Tür, doch nichts regte sich. Der Busfahrer hatte den Kopf sinken lassen. Sitos Blick wanderte zurück zum ersten Bus. Er rief sich den Busfahrer in Erinnerung, wie er, das Smartphone noch am Ohr, die Tür öffnete. »Wir dürfen aussteigen«, wiederholte er leise, was der Busfahrer gesagt hatte. »Wir dürfen aussteigen.« In Bruchteilen einer Sekunde traf es Sito wie ein Blitz.
»Weg von dem Bus!«, schrie er durchs Megafon. Busch reagierte sofort. Er trieb die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung an, sich schneller zum Gebäude zu bewegen, seine Kollegen folgten ihnen, und plötzlich waren rund hundert Menschen auf der Flucht in Richtung Präsidium. Sie gingen in Deckung und warteten. Sito hatte sich mit Busch hinter einem Wagen verschanzt und beobachtete die düstere Szenerie. Die Menschen in dem zweiten Bus sahen aus den Fenstern, einige klopften noch immer. Gedämpfte Hilferufe drangen nach außen. Sekunden verrannen, nichts passierte. Sekunden, Atemzüge, Schluchzen im Hintergrund, nichts passierte.
Sito sah sich um, suchte nach dem Fahrer aus dem ersten Bus und rannte zu ihm. Er packte den noch immer völlig apathisch wirkenden Mann am Arm und schüttelte ihn sacht, aber eindringlich.
»Was ist da los?«, fragte er.
Der Mund des Busfahrers stand offen, und der Atem kam stoßweise. »Eine – Bombe«, sagte er.
»Was?«
»Die Bombe ist im zweiten Bus. Wir wussten es nicht, als wir losfuhren.« Er sackte erneut in sich zusammen.
***
Sie waren gerade mit Blaulicht an den wartenden Autos über die B 33 gefahren. Im Vorbeifliegen hatte er den Bodensee auf der einen Seite, das Kloster Hegne auf der anderen gesehen. Ein Studienfreund hatte mal ein WG-Zimmer in Hegne gehabt, daher kannte er den Ort. Auf Höhe der Reichenau kam plötzlich die Meldung, dass sie es fortan nicht mehr nur mit der Geiselnahme an der Universität zu tun haben würden, sondern auch mit einer Geiselnahme und Bombendrohung direkt auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums.
Konstantin Hagen sah seinen Kollegen an, der ihm vor einer Stunde noch Mut gemacht hatte, dass sie auch diesen Tag heil überstehen würden, und sah dessen erstaunten Blick. »Zwei Geiselnahmen an einem Tag und in einer Stadt? Spinnen die?«
»Ist heute der Tag der Bekloppten?«, fragte ein anderer.
Über Funk sprachen sie mit ihrem Einsatzleiter Georg Moller und beschlossen, dass sie sich direkt fahrzeugweise aufteilten, die Einsatzleitung auf dem Präsidium sollte Konstantin Hagen übernehmen. Sein Nachbar stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite und nickte ihm zu. »Das rockst du«, sagte er ihm. Schon flogen die Hände in die Mitte, jeder legte seine auf eine andere, und sie stimmten sich ein: »Einer für alle, alle für einen«, klang es wie aus einem Munde durch den Bus. Nur Konstantin fühlte einen Kloß im Hals.
Im Grunde hatten sie eine exzellente Quote, meist lösten sie Geiselnahmen und andere Konflikte, ohne von der Schusswaffe Gebrauch machen zu müssen. Sie verhandelten, sie stürmten, sie waren ihren Gegnern taktisch überlegen. Weshalb also machte Hagen sich an diesem Tag Sorgen? Lag es daran, dass er beim Aufwachen das Gefühl gehabt hatte, eine tiefschwarze Decke läge über seinem Gesicht? So ein merkwürdiger Schleier vor den Augen, den er nicht sofort auf die noch währende Dunkelheit in seinem Zimmer schob, sondern erst auf sein Augenlicht. Er würde seine Freundin heute nicht mehr treffen. Er wäre gleich wieder unterwegs, um Frieden zu stiften, und würde auch davon niemandem erzählen können.
Sie erreichten den Parkplatz des Präsidiums. Das große herrschaftliche Gebäude ragte vor ihnen auf, davor der rote Bus. Sie fuhren vor den Seiteneingang, Hagen gab das Zeichen für die Sturmmasken, die sie ab sofort tragen würden, bis sie in einem abgeschlossenen internen Bereich waren, und gemeinsam verließen die zwölf Männer das Einsatzfahrzeug. Vom Uni-Bus aus konnte man sie nicht sehen. Hagen wusste, dass der Aufmarsch des SEK schnell Panik auslösen konnte, und noch hatten sie keine Ahnung, wie die Bombe gezündet werden würde. Womöglich also waren auch Geiselnehmer mit an Bord. Im Besprechungszimmer nahm er seine Sturmmaske wieder ab und spürte sofort den angenehmen Luftzug an seinem Gesicht. Ab jetzt wartete er auf die neuen Informationen der Hauptkommissare vor Ort.
***
Das Gebiet um das Polizeipräsidium war weiträumig abgesperrt. Die Menschen aus dem ersten Bus befanden sich inzwischen in verschiedenen Räumen im Präsidium und wurden von einem Kriseninterventionsteam der umliegenden Krankenhäuser betreut. Rosa rannte zwischen der Küche und den Räumen hin und her und versorgte die Geretteten, so gut es ging. Die meisten waren umgehend zu Befragungen bereit. Nach einer Viertelstunde hatten Sito und Busch ein doch recht klares Bild von den Abläufen der letzten Stunden. Sie zogen sich in Sitos Büro zurück, die Kollegen würden die Befragungen fortsetzen.
Sito stand am Fenster und beobachtete den Parkplatz. Ein Sprengstoffexpertenteam kontrollierte sicherheitshalber den leeren Bus. Langsam bewegten sie sich vorwärts, gaben Zeichen, wenn etwas gesichert war. Sito hatte von verschiedenen Übungen eine ungefähre Vorstellung, wie hoch der Adrenalinpegel dieser Leute war – jeder Schritt ein Wagnis. In den Trainingsräumen lösten Fehltritte Alarmsignale aus, akustische Schockmomente, die in der Realität den Tod bedeuten konnten. Er riss sich los und hob seinen Blick in den Baum gegenüber seinem Fenster. Vor etwas über zwei Stunden hatten sie von der Geiselnahme an der Universität erfahren. Er hatte das Gefühl, der Tag dauere schon ewig.
»Die Geiselnehmer haben noch immer keine Forderung geschickt«, sagte Busch von seinem Schreibtisch aus. Er hatte sich hingesetzt und sah sich suchend um. Abrupt stand er auf. »Und? Was entdeckt in dem Baum?«, fragte er. »Ich brauch einen Kaffee. Du auch?« Ohne die Antwort abzuwarten, trat er zur Kaffeemaschine und kochte eine ganze Kanne für sie beide. Das Gurgeln war für eine kleine Weile das einzige Geräusch im Raum, durchdrungen von den Rufen durch das Megafon, die sich blechern über den Platz vor dem Präsidium nach oben verteilten.
Sito legte sich die Hände in den Nacken. »Die haben wieder Stäbe aufgebaut.«
»Hm?«
»Gegen die Tauben. Diese Minispeere.« Sito öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um die Metallspitzen umzubiegen, scheiterte jedoch. »Jedes Mal sehe ich eine aufgespießte Taube in meiner Phantasie.« Er würde eine Zange brauchen, um die Speere unschädlich zu machen.
Busch starrte nach draußen. Er musste sich losreißen. »Der Kaffee«, murmelte er. »Ich glaub –«
»Es ist schrecklich«, sagte Sito. »Wir stehen hier und können nichts tun, außer zu warten.«
»Das ist ein schlechtes Zeichen, dass die sich noch nicht gemeldet haben«, sagte Busch und trat mit zwei Kaffeetassen neben Sito ans Fenster.
»Die da unten«, Sito nickte in Richtung Parkplatz, »die erleben gerade die Hölle, und nichts in ihrem Leben wird mehr so sein, wie es mal war.« Er trank einen Schluck. »Also, Marc, lass uns die Ereignisse rekonstruieren.« Sito setzte sich mit seinem Kaffee und wartete, bis Busch ihm gegenübersaß, dann nahm er einen Zettel und einen Stift und begann zu notieren. »Ungefähr um acht Uhr dreißig sieht die Sekretärin bewaffnete Männer im Gang, oder?«
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