Jasmin Jülicher
Der Hüter
Stadt der See
Band 4
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Der Hüter – Stadt der See
© 2021 Jasmin Jülicher
Annastraße 87
47638 Straelen
Deutschland
Druck: Booksfactory, Szczecin (Polen)
Coverillustration: Hannah Böving
Lektorat: Ka & Jott, Bernau bei Berlin
Buchsatz: saje design, www.saje-design.de
Illustrationen: www.pixabay.de, www.shutterstock.com
ISBN: 978-3-96698-967-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages bzw. des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Rechte vorbehalten.
»So kann es nicht weitergehen. Ihr müsst das stoppen!« Mit hochrotem Gesicht stützte William Vanderbilt sich auf den Schreibtisch des Obersten rerum naturalis.
»Wir stoppen es ja, beruhigen Sie sich.« Thomas Hunt-Morgan lehnte sich entspannt in seinem hohen Stuhl zurück. »Wir haben die Hüter darauf angesetzt, sie werden den Fall lösen.«
»Sie glauben, diese Witzfiguren können mehrere Mordfälle aufklären?« Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Wie können Sie dabei so ruhig bleiben? Dieser Wahnsinnige zerstört meine Stadt. Er tötet Eure Wissenschaftler!«
Breitbeinig stand Alexander auf den flachen Felsen. Mit beiden Händen hielt er eine Angel ins tiefblaue Meer. Die Wellen schlugen träge ans Ufer und der Schwimmer tanzte munter auf den Schaumkronen. Eine leichte Brise wehte und Alexander drehte das Gesicht zur Morgensonne. Um diese Uhrzeit war die Wärme noch angenehm. Später am Tag dagegen würde er froh sein, Schutz vor den unerbittlichen Sonnenstrahlen zu finden.
Ein leichter Zug spannte die Leine seiner Rute und Alexander straffte sich. Er zog ebenfalls an der Angel und lehnte sich zurück. Ein Ruck ging durch die Leine und er stellte einen Fuß auf den Felsen vor sich, um einen besseren Halt zu haben. Kraftvoll riss er die Angel zurück und begann damit, die Leine einzuholen.
So wie sich die Angel bog, musste es ein richtig großer Brocken sein. Er stellte sich vor, wie die anderen ihn ansehen würden, wenn er dieses Exemplar durch die Stadt trug. Natürlich, er hatte auch zuvor schon etwas gefangen, kleinere Fische, doch in den vier Monaten, die er jetzt hier war, hatte er alles erst von Grund auf lernen müssen. Nie zuvor hatte er geangelt. Dafür war er ganz gut. Das hatte auch Alvaro ihm bestätigt, als er ihm das Angeln beigebracht hatte. »Machst das erstaunlich gut«, hatte er ihm damals gesagt. Alvaro hielt ihn für einen verwöhnten Jungen aus gutem Haus. So hatte er es ausgedrückt. Noch immer wusste Alexander nicht genau, was das eigentlich heißen sollte, doch er vermutete, dass die Reichen, die guten Häuser eben, viele Dinge nicht selbst machen mussten. Zumindest damals vor dem Krieg. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre nach dem Großen Krieg, musste jeder an der Oberfläche die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wer etwas zu essen wollte, der musste es fangen. Wer ein Dach über dem Kopf wollte, der musste es sich bauen. So lief das hier auf Roatán. Es war nicht wie in Biota, wo jeder einzelne Einwohner seine Rolle gehabt hatte, die ihm schon kurz nach der Geburt zugewiesen worden war. Er war ein Hüter gewesen, ein Aufpasser, damit alle die Regeln einhielten. Welchen Sinn hatte dieser Beruf gehabt? Er hatte nichts produziert, er hatte niemanden versorgt, er hatte keine Ahnung gehabt, wie es in der echten Welt ablief. So nannte er die Welt hier draußen inzwischen. Echt. Biota, eine Stadt unter Kuppeln tief am Grund des Meeres, war nicht echt. Und das Leben dort war es auch nicht gewesen.
Der Fisch kämpfte hartnäckig. Die Schnur war straff gespannt und Alexander bekam Angst, sie würde reißen. Doch Aufgeben kam nicht infrage. Zentimeter um Zentimeter holte er die Schnur ein. Nach ein paar Minuten durchbrach seine Beute die Wasseroberfläche: ein Fisch so lang wie sein Unterarm. Er zuckte und wand sich, doch jetzt konnte er nicht mehr entkommen. Alexander holte die Schnur ein und tötete den Fisch mit einem schnellen Schlag auf die Felsen. Auch das hatte Alvaro ihm beigebracht. Ein Schlag – und das Tier musste nicht leiden. Es hatte Alexander allerdings einiges an Überwindung gekostet, seinen Anweisungen zu folgen.
Er ließ den Fisch einfach am Haken hängen. Auf dem Weg nach Hause machte es keinen Sinn, ihn in der einen, die Angel in der anderen Hand zu tragen. So konnte er sich die Rute bequem über die Schulter legen und den Fisch transportieren. Er warf einen letzten langen Blick hinaus aufs Meer. Diese Tageszeit mochte er am liebsten. Den frühen Morgen, der wunderbar klar war und wo einfach alles noch möglich schien. Von Zeit zu Zeit fragte er sich, wie er das Leben in Biota überhaupt ertragen hatte. Wie hatte er die dunklen Gänge und schmalen Räume für schön halten können? Wie hatte er sich mit Menschen unterhalten können, deren Antworten durch die Wissenschaftler schon vorgegeben waren? Niemand hatte eine eigene Meinung. Sie waren vor dem Einzug in die Stadt alle darauf programmiert worden, ihr vorheriges Leben zu vergessen und nach den Regeln und Sitten Biotas zu leben.
Nun war er frei. Nicht länger war er an die Stadt gefesselt. Und an solchen Morgen wie heute glaubte er es sogar selbst. Doch konnte er jemals wirklich frei sein? Wenn er schlief, verfolgte ihn das, was er gesehen hatte. Es war so viel geschehen. Und nichts davon konnte er rückgängig machen, nichts davon konnte er vergessen. Er träumte von Biota, von Jack the Ripper, diesem Wahnsinnigen, der ihn eingesperrt und beinahe getötet hatte. Von den Spheon, grauenhaften Kreaturen, die die Wissenschaftler der Stadt erschaffen hatten. Von dem Keller in Narau, in dem er Nic halbtot aufgefunden hatte. Und von den riesigen Maschinen in Theben, denen Nic und er nur knapp hatten entfliehen können.
Nic.
Noch immer, auch nach den vergangenen Monaten, dachte er oft an sie. Sie war in Biota eine Wissenschaftlerin gewesen, eine Botania. Hoch angesehen, erfolgreich und beinahe unantastbar.
Er hatte gedacht, sie hätte all das hinter sich gelassen, um mit ihm zusammen zu sein. Doch er hätte nicht falscher liegen können. Was sie getan hatte, war ein einziges großes Experiment gewesen. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die wohl zeigen sollte, wie gut die Anpassung der Menschen an die Regeln Biotas funktioniert hatte. Sonst war da nichts zwischen ihnen gewesen, sie hatte ihm all die Zeit etwas vorgespielt.
Er hatte sie nun wie lange nicht mehr gesehen? Drei Monate? Fast seit ihrer Ankunft in der Stadt nicht mehr. Er wollte sie nicht sehen und sie hatte bisher keine Versuche unternommen, ihn umzustimmen.
Sie waren mit einem Luftschiff von der Stadt Theben nach Roatán befördert worden. Interessanterweise hatten die Inselbewohner sie wesentlich freundlicher aufgenommen als zuvor die Einwohner von Narau, die ihnen sofort an den Kragen gewollt hatten. Sklaven hatten sie aus ihnen machen wollen. Oder die Menschen in Theben, die ihnen mehr als skeptisch gegenübergestanden hatten.
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