Konzentriert trug Alexander eine Kiste nach der anderen von Bord des Schiffes. Es folgten einige Metallteile, die er gemeinsam mit Loak forttrug, da sie für ihn allein viel zu schwer und sperrig waren. Danach ging es daran, die lebendigen Waren von Schiff zu bewegen. Diesmal hatte das Schiff vier kleine Tiere geladen, die Rehen ähnelten und die mit Seilen angebunden waren. Alexander löste die Seile, zog die Tiere, die sich zunächst weigerten, von Bord und band sie auf dem Steg wieder an. Dann kehrte er zurück, griff nach den Schalen mit Wasser, die für die Tiere an Bord gestanden hatten, und brachte sie ebenfalls auf den Steg.
Die Hitze war drückend und permanent rannen ihm dicke Schweißtropfen über die Stirn hinab in den Kragen seines Hemdes. Doch die Sonne war inzwischen hinter dichten Wolken verschwunden. Vielleicht würde es ja heute noch regnen? Alexander wünschte es sich beinah. So schön das gute Wetter auf Roatán auch war – auf Dauer war es eine enorme Belastung. Und er war die Wärme nicht gewohnt. In Biota war die Temperatur der Stadt geregelt worden und damit nie zu hoch oder zu niedrig.
Bereits Narau war ein Schock für ihn gewesen. Die dunstige Hitze, der Rauch, der zu jeder Tageszeit in der Luft lag, und das Fehlen der Sonnenstrahlen, die den Nebel nicht durchdringen konnten. Und nach seiner Erfahrung in der Wüste vor Theben war Hitze nicht unbedingt seine bevorzugte Wetterlage. Und so war Roatán eine Herausforderung für ihn. Es war immerzu warm und feucht. Die Sonne brannte nur so vom Himmel herab und versengte die Haut, wenn man ihr zu lange ausgesetzt war. Das hatte er am Anfang nicht beachtet und bereits am dritten Tag hier hatte er ausgesehen, wie ein gekochter Krebs. Roter Kopf, rote Arme, rote Beine. Die Einwohner hatten so viele Witze über ihn gerissen, dass er dachte, sie würden an ihrem Lachen noch ersticken. Aber eigentlich war es ein guter Einstand gewesen. Jeder hatte Spaß gehabt und ihn sogleich als neues Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert.
Alexander hob gerade eine kleinere Kiste hoch, als eine Bewegung in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit erregte. Lange dunkelblonde Locken. Rasch stand er auf und spähte hinüber zu den Gebäuden am Hafen. Keine Locken. Nur das übliche Gewimmel von Leuten, die auf die Freigabe der neuen Waren für den Tausch oder Verkauf warteten. Hatte er sich die Bewegung nur eingebildet?
Da! Die Tür des Rathauses schwang noch in den Angeln. Wenn er sie sich nicht eingebildet hatte, musste sie dorthinein gegangen sein.
»Hey, Ezio, ich bin kurz weg, ja?«
Ezio, ein großer Mann mit dunkler Haut sah nicht einmal auf. »Wenn du meinst.«
Das hieß dann wohl »Ja«. Alexander sprang von Bord und lief den Steg hinab. Am Ende war der Steg noch für Besucher gesperrt und er musste sich durch die davor wartende Menschenmenge zwängen. Viele der Leute hatten Karren dabei, auf denen sie ihre Tauschwaren transportierten und die das Durchkommen erschwerten.
»Darf ich mal …« und »Entschuldigung« murmelnd wand Alexander sich durch die vielen Menschen und stand wenige Augenblicke später vor dem Rathaus, dem Gebäude der Alcalde Anne Bonny. Einmal erst war Alexander bei ihr gewesen. Damals, vielleicht eine Woche, nachdem er auf Roatán angekommen war und als feststand, dass er so bald nicht wieder gehen würde. Er hatte sich angemeldet und sein Haus als Wohnsitz eingetragen. Unter der Leitung der Alcalde musste alles seine Ordnung haben.
Er schritt zur Tür und legte die Hand auf das warme Holz. Dann atmete er zweimal tief durch, stieß die Tür auf und trat ein.
Im Inneren war es heller als draußen und einen kurzen Moment lang war Alexander geblendet von dem Licht, das mehr als zehn Gaslaternen verströmten. Der unangenehme Nebeneffekt der Lampen war eine brütende Hitze, die die im Freien noch weit übertraf.
Bevor er sie sah, vernahm Alexander ihre Stimme.
»… muss ihn finden. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«
»Hallo Nic.« Er war froh, dass seine Stimme ganz normal klang. Wie oft hatte er sich den Moment ausgemalt, in dem sie sich wiedersehen würden?
Nic fuhr herum und ihre Haare wirbelten durch die Luft.
»Alexander!« Sie klang atemlos. Die Augen weit aufgerissen, sah sie eher erschrocken als erfreut aus. »Was machst du denn hier?«
Nun, das war nicht die Begrüßung, die er erwartet hatte. Sie hatten so viel miteinander durchgemacht, verdiente er da nicht ein wenig mehr als das? Auch wenn ihre gemeinsame Zeit wenig mehr als ein Experiment gewesen war?
»Ich habe dich vom Schiff aus gesehen. Da wollte ich Hallo sagen.« Er musterte Nic. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie trug eine Korsage aus hellem Leder und einen mehrlagigen Rock, der vorne kürzer war als hinten. Beides hatte er noch nie zuvor an ihr gesehen. Ihr Gesicht war deutlich gebräunter als zu ihrer Ankunft auf Roatán und ihr Haar hatte einen goldenen Schimmer bekommen. Es stimmte, er hatte sie begrüßen wollen. Er musste sich davon überzeugen, dass alles tatsächlich so gewesen war, wie er es in Erinnerung hatte. Da war nichts zwischen ihnen gewesen, richtig? Sie war nur eine Forscherin gewesen und er ihr Forschungsobjekt.
»Hallo.« Offenbar schien Nic nach weiteren Worten zu suchen, denn sie sah zu Boden und biss sich auf die Lippe. Im Hintergrund saß die Alcalde an ihrem Schreibtisch, ein dickes Buch vor sich aufgeklappt und das sie betont intensiv studierte. Sie wollte ihnen wohl etwas Privatsphäre geben oder nur nicht mitansehen, wie er von Nic eiskalt abgewiesen wurde. Gab es wirklich nichts mehr zu sagen?
»Wie laufen deine Projekte?«, erkundigte sich Alexander, als er die Stille nicht mehr ertragen konnte.
»Gut, gut.«
Na, das war doch mal eine ergiebige Antwort. So langsam wurde Alexander sauer. Wer glaubte sie eigentlich, wer sie war, dass sie ihn einfach so abfertigen konnte? Sie lebte genau wie er auf dieser Insel. Offenbar wollten ihre Forscherkollegen nicht unbedingt, dass sie nach Biota zurückkehrte.
Er startete einen letzten Versuch. »Was führt dich in die Stadt?«
»Nichts Besonderes.« Das war alles. Sie sah zu Boden und schwieg.
Sie wollte nicht mit ihm reden? Gut, dann er auch nicht mit ihr.
»Na, dann mach‘s gut, ich muss zurück an die Arbeit.«
Fester als nötig stieß Alexander die Schwingtür auf, die daraufhin auf der Außenseite gegen die Wand schlug. Ohne sich umzudrehen marschierte er zurück zum Schiff. Was bildete Nic sich eigentlich ein?
Bepackt mit seiner Belohnung für das Entladen der Schiffe am heutigen Tag ging Alexander am frühen Abend zurück zu seinem Haus. Nun war endlich der frisch gefangene Fisch an der Reihe, auf den er sich schon den ganzen Tag freute. Nicht weil er Fisch so lecker fand – davon hatte es in Biota viel zu viel gegeben –, nein, weil er ihn selbst gefangen hatte. Es gefiel ihm mehr und mehr, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Seinen Beruf selbst zu wählen, seine Partnerin, sein Haus. Dazu Nahrung eigenständig beschaffen, Reparaturen selbst durchführen … Es fühlte sich richtig an und es ging ihm gut damit. Dieses dumpfe Gefühl der Betäubung, das ihn in Biota befallen hatte, nachdem er sich auf die Suche nach einem Mörder gemacht, aber keine Ahnung hatte, was er eigentlich tun sollte, war endlich verschwunden. Er konnte selbstständig denken und handeln.
»Da bist du ja«, begrüßte Amy ihn an der Tür und nahm ihm einige Metallteile ab, die sie in einer Kammer unter den Dielenbrettern im Wohnzimmer verstaute. »Ich hatte früher mit dir gerechnet.«
»Tut mir leid, es waren mehr Schiffe, als wir erwartet hatten. Und außerdem war eins von Sao dabei.«
Amys Mundwinkel wanderten nach unten. »Und? Wen hat er diesmal angebrüllt?«
»Den Hafenmeister.«
»Was? Wieso denn das?«
»Keine Ahnung. Er hat ihm sogar mit einem Messer gedroht.«
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