»Welchen Grund könnte er denn dafür haben?« Amy legte die Stirn in Falten.
»Ich hatte eigentlich gehofft, das könntest du mir sagen.« Nach allem, was Alexander wusste, war der Hafenmeister für die Einteilung und Entlohnung der Hafenarbeiter sowie für das Ausbessern des Stegs und die Reparatur der Schiffe zuständig.
»Wollen wir uns vielleicht erstmal hinsetzen? Ich habe das Abendessen schon fertig gemacht, ich dachte, du hast sicher Hunger.« Da hatte sie allerdings recht. Sein Magen knurrte schon seit einigen Stunden. Es war so viel los gewesen, dass er nicht einmal Zeit für eine kurze Zwischenmahlzeit gehabt hatte.
Alexander verstaute den Rest seines Lohns und setzte sich in die Küche an den Tisch. Dort standen bereits zwei Teller mit Fisch und einer Kartoffel und eine Schale mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Die scharfe Soße, auf die die Einwohner von Roatán schworen und die sie praktisch zu allem aßen.
Nachdem Alexander sich gesetzt und einen Bissen vom Fisch genommen hatte, wollte er mehr über den Hafenmeister hören.
»Also, was weißt du über den Hafenmeister? Wofür ist er zuständig?«
»Viel weiß ich nicht. Er heißt Bert Alvarez. Er hat den Posten vor über drei Jahren übernommen und bis jetzt sind mir keine Beschwerden über ihn zu Ohren gekommen. Auf der Krankenstation war er, soweit ich weiß, auch noch nicht.« Sie goss sich ein Glas Wasser ein. »Seine Aufgabe besteht darin, sich um alles zu kümmern, was mit den Schiffen zu tun hat. Er organisiert die Wartung, vermittelt Seeleute und Hafenarbeiter, er achtet auf die Einhaltung der Bezahlung, er verwahrt das Eigentum der Crewmitglieder, wenn es von ihnen gewünscht wird. Außerdem zeichnet er nach den Angaben der Kapitäne Karten von ihren Plünderfahrten, damit andere wissen, wo es noch etwas zu holen gibt und von welchen Ecken man lieber die Finger lassen sollte.« Sie nippte an ihrem Wasserglas. »Und er ist für die Post der Seeleute zuständig. Da sie ja selten an Land sind, bewahrt er sie für sie auf und übergibt sie ihnen bei ihrem nächsten Landgang.«
»Post?«
»Ja, viele Briefe sind es sicher nicht, aber einige der Kapitäne haben Frauen in anderen Städten, die ihnen schreiben. Manchmal auch mehrere.«
Die Frauen interessierten Alexander nicht. Es war etwas anderes, das Amy erwähnt hatte, das sein Herz schneller schlagen ließ. Briefe … Sao hatte etwas Bräunlich-Weißes in der Hand gehabt, das er dem Hafenmeister förmlich unter die Nase gedrückt hatte. Die Farbe hatte Alexander an Papier erinnert.
Ein Klopfen durchbrach seine Gedanken. Wer könnte das sein?
»Ich mach auf«, sagte er zu Amy, die sich schon halb erhoben hatte.
Alexander durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Tür.
»Hallo Alex.«
Es war Nic. Ihre Haare waren wirr und sie hatte einen Streifen Dreck auf der Wange.
»Störe ich?«
Die ehrliche Antwort wäre »Ja« gewesen, doch Alexander schüttelte den Kopf. Jetzt also wollte sie mit ihm reden?
Er zog die Tür hinter sich zu, sodass sie gemeinsam auf der schmalen Veranda standen, die sein Haus umgab.
Nic sah für einen Augenblick verdutzt aus, sagte aber nichts dazu, dass er sie nicht in sein Haus bat.
»Also?«, sagte Alexander, weil Nic keine Anstalten machte, zu sprechen. »Warum bist du hier?«
Nic trat von einem Bein aufs andere und sah überall hin, nur nicht in seine Augen. Dann zog sie etwas aus ihrer Hosentasche. Etwas, das Alexander bekannt vorkam.
»Den hier habe ich vor ein paar Tagen bekommen.«
Alexander blickte auf den Brief hinab, der in ihrer offenen Hand lag. Ein heller Braunton. Ihm wurde kalt.
»Was ist das?«, flüsterte er. Angst stieg wie eine eisige Welle in ihm auf.
»Lies es selbst.« Nic gab ihm den Brief und Alexander begann zu lesen.
Sei gegrüßt, du, der du dich in Sicherheit wähnst. Du hast mich vergessen. Wie könntest du auch nicht? Schuld vergisst man gern. Doch bedenke eines: Ich kann mich erinnern. Wir werden uns wiedersehen.
»Wer hat dir das geschickt?«
»Ich habe keine Ahnung. Er lag einfach auf meiner Türschwelle.« Sie wedelte unsicher mit einer Hand in der Luft. »Ich habe niemanden in der Nähe meiner Hütte gesehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber dann hatte ich ein schlechtes Gefühl. Ich dachte vielleicht …«
»Steckt Garrett dahinter? Oder jemand aus Theben?«
Nic riss die Augen weit auf. »Nein, ich dachte, vielleicht spielt mir jemand einen Streich. Erschreck die Fremde oder so etwas in der Art. Jemand, der mich vergraulen wollte. Garrett? Meinst du wirklich? Ist er nicht tot? Oder Amarna?«
»Könnte doch sein.« Garrett hatte ihnen gedroht, als sie Narau verlassen hatten. Und Amarna … Wenn sie freigekommen war, könnte sie sich an ihnen rächen wollen.
»Nach all der Zeit?«
»Vielleicht haben sich die Umstände geändert, wer weiß.«
»Aber Garrett …« Nic schien zu überlegen, wie sie es formulieren sollte. »Meinst du nicht, dass er etwas deutlicher geschrieben hätte, was er will? Und dass er vielleicht auch mit seinem Namen unterschrieben hätte? Wir kennen ihn doch.«
»Das einzige, was ich über diesen Kerl weiß, ist, dass man ihm nicht trauen kann. So etwas wäre doch genau sein Ding! Er versetzt dich in Angst und Schrecken und sieht zu, wie du dich windest. Er liebt es, wenn die Menschen sich vor ihm fürchten.«
»Ja, vor ihm! Aber doch nicht vor einem gesichtslosen Jemand.« Nic sprach nun lauter und Alexander warf besorgt einen Blick zur Tür. Konnte Amy sie hören? Lauschte sie vielleicht sogar hinter der Tür?
Etwas an Nics Anwesenheit flößte ihm Schuldgefühle ein. Als ob er Amy schon mit der Tatsache betrog, dass er mit Nic allein war.
»Aber weißt du wirklich, was Garrett tun würde?«
»Nein, du denn? Ich weiß nur, dass er zu allem fähig ist. Und er hat Beziehungen.« Nic fuhr sich durch die dichten Locken und brachte sie dabei noch mehr durcheinander.
»Gut möglich, dass Garrett sowieso tot ist, wir wissen nicht, wie sein Kampf mit James ausgegangen ist.« Genervt schloss Alexander die Augen. Alles an Nic beschwor die grauenvollen Dinge wieder herauf, die er erlebt hatte. Sie war ein Teil davon gewesen und inzwischen untrennbar mit den Erinnerungen verbunden. Und nichts davon hätte geschehen müssen. Hätten sie und ihre Kollegen nicht beschlossen, dass er das perfekte Versuchsobjekt war …
»Ich denke nicht, dass er tot ist. Und Amarna könnte bei dem Angriff befreit worden sein …«
»Was ist das hier?«, unterbrach Alexander sie.
Nic runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Das hier.« Alexander hatte den Brief in den Händen gedreht und dabei war ihm ein Schriftzug aufgefallen. Vorne auf dem Brief prangte der Name »Andrew Fontaine«.
»Wer ist Andrew Fontaine?«
»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«
»Es steht auf deinem Brief!« Alexander musste sich Mühe geben, um nicht loszuschreien. Warum musste es mit Nic so sein? Warum brachte ihre Nähe ihn so aus dem Gleichgewicht? Alles war gut gewesen, bevor sie wieder aufgetaucht war. Sogar mehr als gut. Er war glücklich gewesen. Nun stand sie hier vor ihm und er verwandelte sich in jemanden, der beinahe Frauen anschrie.
»Sag mir bitte: Kennst du einen Andrew Fontaine?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhiger klingen zu lassen.
»Andrew Fontaine … Ich kenne niemanden, der so heißt. Versteh mich nicht falsch, ich habe den Namen gesehen, aber ich habe angenommen, dass vielleicht zuerst etwas anderes auf den Bogen Papier geschrieben werden sollte oder vielleicht der Papierhersteller seine Waren kennzeichnet …«
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