Nic schüttelte den Kopf und stieß einen Ast beiseite, der quer über dem Weg hing. Der Gedanke an Biota machte sie traurig. Sie hatte alles verloren. Ihre Sicherheit, ihre Arbeit, ihre Freunde. Und wofür? Wofür? Seit ihrer Zeit in Narau hatte sie sich das oft gefragt. Sie hatte alles geopfert, einfach alles, bis auf ihr Leben. Und inzwischen wusste sie nicht mehr, ob es das wert gewesen war. Die Einwohner von Biota waren doch glücklich gewesen, oder nicht? Warum hatte sie es nicht einfach gut sein lassen? Warum hatte sie die Morde nicht vertuscht, so wie die anderen Wissenschaftler es getan hätten? Sie hätte Alexander eine Erklärung liefern können, die so harmlos war, dass er den Fall aufgab. Eine Erklärung, die nicht die ganze Stadt in Gefahr gebracht hätte.
Stattdessen hatte sie die Oberen überzeugt, Alexander mit den Ermittlungen fortfahren zu lassen. Sie wollte nicht, dass ihm etwas zustieß, und sie wollte auch nicht, dass die Bevölkerung weiterlebte wie zuvor. Der Vorschlag eines bedeutenden Experiments an Alexander war die beste Tarnung gewesen. Regelmäßig hatte sie Bericht aus Narau an die Oberen erstattet, um sie in Sicherheit zu wiegen. Und um sich und Alexander vor ihrer Verfolgung zu schützen. In Theben hatte sie damit aufgehört. Die Oberen konnten sie nicht mehr finden und damit war sie frei von ihnen. Doch leider war sie nun auch frei von Alexander. Er sah in ihrem Handeln einen unverzeihlichen Verrat. Und sie konnte es ihm nicht verdenken.
Es war zu spät. Und sich mit diesen Gedanken selbst zu zerfleischen, führte zu nichts. Trotzdem kehrte ihr Geist jeden Tag zurück in die Stadt unter dem Meer. Manchmal bildete sie sich sogar ein, die Mischung aus Salzwasser, Algen und Metall wieder zu riechen, die in Biota allgegenwärtig gewesen war.
Nic fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte. Als sie sie wegzog, war ihre Hand nass. Wäre sie wieder in Biota, müsste sie auch nicht Tag für Tag in den tropischen Temperaturen schwitzen, ohne eine Möglichkeit, ihnen zu entkommen.
Nach ein paar Metern kam sie an einen Zaun aus unregelmäßig großen Holzpfosten. Als sie in dieses Haus – oder eher diese Hütte – gezogen war, war das Grundstück ringsherum offen gewesen. Jeder Mensch, jedes Tier hatte ungehindert eindringen können. Nic wusste nicht, ob es ihre Vergangenheit in einer abgeriegelten Stadt war oder aber ihr geschulter Verstand, doch sie wollte einen Zaun zwischen sich und dem Rest des Waldes. Sie hatte sich eine Säge und eine Axt geborgt und einfach angefangen. Acht Tage lang hatte sie mit einer Genehmigung der Alcalde von morgens bis abends Bäume geschlagen, zersägt und zu einem Zaun aufgestellt.
Es war ihr Glück gewesen, dass die Roatáner sie und Alexander so freundlich aufgenommen hatten. Diese Hütte hatte leer gestanden. Und ohne eine Verhandlung, ohne irgendeine Bezahlung hatten sie Nic gestattet, sich darin einzurichten. Niemand wollte etwas dafür. Sie hatten ihr sogar noch geholfen. An den Tagen, an denen sie so hart gearbeitet hatte, hatten ihr zwei Frauen aus der Stadt etwas zu essen gebracht. Einfach so. Kaum zu glauben.
Nic beschloss, sich so bald wie möglich zu revanchieren. Inzwischen wuchsen allerlei Pflanzen in ihrem weitläufigen Garten. Es war eine unglaubliche Arbeit gewesen, doch sie war stolz auf das, was sie geleistet hatte. Neben dem Obst- und Gemüsegarten hatte sie auch an ihrem Labor gearbeitet, so bezeichnete sie es zumindest. Leider hatte es nicht das Geringste mit ihrem Labor in Biota gemein – doch es gehörte ihr.
Sie öffnete das Schloss und betrat den Weg zu ihrem Haus, den sie mit Muscheln ausgelegt hatte. Das dumpfe Knirschen der zerbrechenden Schalen klang laut in der Stille der Nacht, doch Nic hatte sich daran gewöhnt.
Im Haus entzündete sie die zwei Gaslaternen, die sie an der Decke angebracht hatte. Zwei Lichtkugeln hüllten ihr Wohnzimmer in einen goldenen Schein.
Erschöpft ließ sie sich auf das Sofa sinken, das sie aus Brettern, Stroh und Stoffresten gebaut hatte. Es gefiel ihr. Überhaupt gefiel es ihr, Dinge selbst zu machen. In Biota war es nicht nötig gewesen, sie hatte alles kaufen können, was sie wollte. Sie hatte das Geld, die Beziehungen und den Status gehabt. Außerdem sah man es nicht gern, wenn die Wissenschaftler an etwas anderem als ihren Forschungsthemen arbeiteten. Noch dazu körperliche Arbeit … Nic lächelte und schüttelte den Kopf.
Dann musste sie an Alex denken. Damals hatte er sie bewundert, vielleicht hatte er sie sogar ein wenig gefürchtet. Wissenschaftler und normale Einwohner zusammen … Das wurde ebenfalls nicht gern gesehen. Sie hatte ihn nervös gemacht, das hatte sie gemerkt. Inzwischen war es anders. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich gewandelt. Ein Großteil dieser Veränderung war von ihr ausgegangen, das war ihr klar. Sie hatte ihn von sich gestoßen, immerzu und anscheinend einmal zu oft. Nachdem sie auf Roatán gelandet waren, hatte sie eine Unruhe in sich verspürt, die es ihr unmöglich gemacht hatte, in der Stadt zu bleiben. Die vielen Menschen, die Enge, der Lärm, die Hitze. Sie hatte nur noch weggewollt aus der Stadt. Alleinsein und die Natur genießen. Noch dazu eine Auszeit von sich selbst.
Alexander musste froh sein, dass sie fortblieb. Sie hatte sich auch isoliert, weil sie nicht ertragen konnte, wie er sie ignorierte oder mit Verachtung strafte. Ohne ihn wäre sie noch in Biota. Aber wäre sie glücklich dort? Nein, auf keinen Fall. Er hatte ihr den Mut gegeben, zu versuchen, die Stadt zu verändern. Unglücklicherweise hatte es nicht funktioniert und sie musste nun mit den Konsequenzen leben. Doch das war ihre eigene Entscheidung gewesen und Alexander lediglich der Auslöser.
Er und sie … es hatte nicht sein sollen, dabei war die Zeit in Theben ihr wie der Beginn von etwas Besonderem vorgekommen.
Doch er hatte bereits damit abgeschlossen. Amy hieß sie. Und sie war hübsch und jung. Doch was bitte wollte Alexander von ihr? Sie war verrückt, hatte Wahnvorstellungen oder sonst etwas stimmte nicht mit ihr. Der Fliegende Holländer? War das ihr Ernst? Oder hatte sie sich einen Spaß mit ihr erlaubt? Nic bezweifelte es. Amy hatte überzeugt geklungen, als sie ihr dieses Märchen aufgetischt hatte. Ein verhexter Kapitän, eine ertrunkene Crew, Briefe, die verbrannt werden mussten … Fantasie hatte sie zweifellos. Für Nics Geschmack ein wenig zu viel.
Sie zog den Brief aus der Tasche und betrachtete ihn im Licht der Laternen. Die Tinte war mit strengen Schwüngen aufgetragen worden. Schnörkellose Buchstaben. Keine Schreibfehler. Von welcher Schuld war dort nur die Rede? Nicht, dass sie nicht genügend Schuld auf sich geladen hätte, um einen solchen Brief zu verdienen. Da wäre der Verrat an Biota, ein Mord, der auf ihr Konto ging, Garrett, Yanara und James, die sie im Stich gelassen und Alex, dessen Gefühle sie verletzt hatte. Eine lange Liste von Menschen, die ihr möglicherweise an etwas die Schuld geben könnten. Doch wer hätte ihr den Brief schreiben sollen? Und wie hatte er nach Roatán gelangen können?
So kam sie nicht weiter. Nic griff nach ihrem Feuerzeug. Mit einer fließenden Bewegung entzündete sie es und hielt die Flamme unter eine Ecke des Briefes. Für einen Moment starrte sie gedankenverloren in das helle Licht, ließ sich förmlich davon einsaugen. Dann blies sie die Flamme wieder aus. Sie konnte das nicht. So zu tun, als wäre die Geschichte vom Fliegenden Holländer Realität und nicht nur ein Märchen … Nein, das war gegen alles, an das sie glaubte. Und obwohl sie Amy und Alexander versprochen hatte, es zu tun, entschied sie, den Brief vorläufig nicht zu verbrennen. Und ihn auch nicht an einen Mast zu nageln. Was war das eigentlich für eine alberne Idee?
Warum beschäftigte der Gedanke an den Brief sie bloß so sehr? Es war nur ein Stück Papier. Und es war nicht einmal an sie gerichtet. Vielleicht hatte der Zufall den Brief vor ihre Tür geführt. Der Wind könnte ihn aus der Stadt hierher gewirbelt haben. Es war möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Erklärung gefiel ihr immer noch besser, als die Möglichkeit, dass der Brief tatsächlich an sie gerichtet war. Dann müsste sie nämlich wirklich Angst haben.
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