Orientierungslos sah Alexander sich auf dem Deck um. Er erkannte viele der Seeleute, die bereits mit den Segeln und den vielen Seilen an Bord hantierten. Unter Deck musste es Freibeuter geben, die damit beschäftigt waren, den Ofen für die Dampfmaschine zu befeuern. »Soll ich helfen?«
Jimmy lachte. »Wie wäre es, wenn du erstmal deine Sachen in deine Kabine bringst, und dann zu mir in die Kapitäns-Kajüte kommst? Dann kann ich dir alles erklären.«
»Oh … ja, gerne.«
Etwas an dem Angebot machte Alexander misstrauisch. Jimmy wollte ihm persönlich alles erklären? Sie war die Kapitänin, die wichtigste Person an Bord. Sollte sie diese Aufgabe nicht einem ihrer Männer überlassen?
»Es kann losgehen.« Jimmys Ruf schallte über das Schiff und gleich darauf setzte eine Geräuschkulisse ein, die Alexander schon oft genug gehört hatte, um sie zu erkennen. Die Schaufelräder begannen sich zu drehen, ein stetiges Schnaufen erklang. Das Schiff legte ab. Und er befand sich darauf. Das war es, ein Zurück gab es nun nicht mehr.
»Komm mit.« Jimmy führte ihn zu einer Tür. Dahinter verschwand eine Treppe unter Deck. »Ich bringe dich zu deiner Kabine. Versteh mich nicht falsch, es ist eher eine Abstellkammer als eine Kabine, aber sei froh, dass du eine für dich allein hast. Es könnte schlechter sein.«
»Ist schon in Ordnung. Ich habe keine hohen Erwartungen.« Alexander stützte sich mit einer Hand an der Wand neben der Treppe ab. Die Stufen waren gefährlich glatt vom jahrelangen Gebrauch.
»Wann fange ich denn mit der Arbeit an? Werde ich einfach direkt mithelfen oder leitet mich jemand an?«
»Hier ist deine Kabine.« Jimmy deutete auf eine niedrige Tür mit einem Knauf.
Hinter der Tür befand sich ein winziges Zimmer, kaum mehr als ein Regal und ein Schemel, auf dem eine Schüssel stand.
»Wo ist denn das Bett?« Nirgendwo war eine Schlafgelegenheit zu erkennen.
»Ah, Moment.« Jimmy drückte einen Knopf an der Wand und ein Knirschen und Schleifen erklang. Schlitze wurden sichtbar und ein Bett klappte heraus. »Spart Platz.«
Alexander legte sein Gepäck auf das Bett und eine große Staubwolke stob davon auf.
»Die Kabine ist lange nicht benutzt worden«, sagte Jimmy entschuldigend. »Und jetzt komm bitte mit.«
Neugierig folgte Alexander ihr weiter den Gang hinunter. Am Ende, direkt dort, wo die Galionsfigur des Schiffes von außen prangen musste, befand sich die Kapitäns-Kajüte. Sie war bestimmt zehnmal so groß wie sein winziges Zimmer und erstaunlich geschmackvoll eingerichtet. Ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem ein Chaos aus Karten, Listen und Navigationsgeräten lag. Dazu ein gemütliches Sofa in hellem Rot, einige Schränke, ein großer Globus. Licht kam von einer elektrischen Lampe, die in der Mitte des Zimmers herabhing. Da es auf dem Schiff eine Dampfmaschine gab, waren die Kabinen offenbar mit Strom versorgt.
Lässig ließ Jimmy sich auf das Sofa fallen, das die Länge der kompletten Wand einnahm. Sie klopft mit der Hand neben sich auf das Polster.
»Setz dich, ich beiße nicht.«
Was genau erwartete sie von ihm? Es fiel ihm schwer, Jimmy einzuschätzen. Vorsichtig setzte Alexander sich auf die Kante des Sofas, möglichst weit entfernt von Jimmy, die soeben ihre Jacke auszog, unter der sie nur eine kurze weiße Bluse trug, die eigentlich mehr sehen ließ, als sie verdeckte. Zumindest wusste Alexander jetzt, dass sie nichts anderes mehr darunter trug. Eine Information, auf die er lieber verzichtet hätte.
»Alexander«, begann Jimmy und betonte jede einzelne Silbe. »Ich bin froh, dass du dich doch noch dazu entschieden hast, mich zu begleiten. Eine gute Entscheidung.« Sie lächelte ihn an. Ihre Zähne schimmerten weiß in ihrem gebräunten Gesicht.
»Ich bin schon sehr gespannt auf meine Aufgaben an Bord«, erwiderte Alexander, weil er nicht genau wusste, welche Reaktion Jimmy von ihm erwartete.
»Da wird es einige geben. Aber eigentlich wollte ich dich für etwas anderes. Eine ganz besondere Aufgabe.« Sie lehnte sich in den Kissen zurück und betrachtete ihn eingehend.
Oh, oh. Alexander gefiel gar nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch bewegte. Diese Stelle anzunehmen, war ein Fehler gewesen, ein riesengroßer Fehler! Jimmy wollte gar nicht, dass er auf dem Schiff arbeitete, sie wollte …
»Es gibt eine Aufgabe, die ich niemandem sonst anvertrauen kann. Dazu sind meine Männer und Frauen zu gierig, zu gradlinig, zu sehr Freibeuter, als dass sie sie zufriedenstellend ausführen würden.«
Das ging wirklich in eine seltsame Richtung.
»Was …«, versuchte er zu fragen, doch Jimmy schnitt ihm das Wort ab.
»Ich möchte, dass du etwas tust, das ich noch nie getan habe, und von dem ich auch nicht weiß, ob es richtig ist.«
Das wurde ja immer besser. Alexander schluckte und versuchte, seinen Mut zusammenzukratzen.
»Ich kann nicht …«
»Ich möchte, dass du der persönliche Begleiter eines Gastes auf diesem Schiff wirst.«
»Was?«
Jimmy schlug die Beine übereinander. »Ich habe zugestimmt, eine Person mit auf unsere Reise zu nehmen, die mich darum gebeten hat. Sie hat mir versichert, dass sie sich selbst versorgt, was Essen und Wasser angeht, und dass sie keine Scherereien machen wird.«
»Warum soll ich ihr persönlicher Begleiter sein?«
»Weil sie kein Freibeuter ist. Ihren Angaben nach ist sie eine Forscherin. Eine Position und eine Einstellung, die man, wie ich finde, unterstützen sollte. Gerade, wenn es sich dabei um eine Frau handelt.«
Oh, nein, das kann unmöglich wahr sein.
»Ihr Name ist Nic. Soweit ich weiß, ist sie neu auf der Insel. Ich weiß nicht, ob …«
»Wir kennen uns.«
Die Stimme hätte Alexander überall wiedererkannt. Er sprang vom Sofa auf und starrte Nic an, die mit einem schiefen Lächeln im Türrahmen stand und ganz offensichtlich nicht wusste, ob sie eintreten durfte.
»Ah, komm rein, Nic. Na, wenn ihr euch kennt, umso besser.« Jimmy stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Mit einer Hand zog sie den Korken aus einer Flasche mit brauner Flüssigkeit und goss einen Schluck davon in ein Glas.
»Auf euch und darauf, dass diese Reise erfolgreich sein wird, so Gott es will.«
Sie prostete ihnen zu und kippte die braune Flüssigkeit hinunter.
»Was genau wird meine Aufgabe sein?« Alexander stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem Schreibtisch. Er musste sich verhört haben. Schlimm genug, dass Nic ebenfalls hier war, aber er konnte unmöglich ihren Aufpasser spielen.
»Nun.« Jimmy räusperte sich. »Sobald wir unser Ziel erreichen, werden die Freibeuter das Schiff verlassen, um nach Material zu suchen. Ihr zwei werdet ebenfalls das Schiff verlassen. Allerdings beschützt du Nic dabei, wenn sie Proben einsammelt oder Affen zeichnet, oder was weiß ich, was sie so vorhat. Du kannst dabei auch Material sammeln, aber verlier sie niemals aus den Augen, verstanden? Ihre Sicherheit hat Priorität.«
»Warum?« Es wollte Alexander nicht einleuchten, warum die Kapitänin eines so großen Schiffes so viel Wert auf die Sicherheit einer Forscherin legte. Einer Forscherin, die ihr keinen Profit einbringen würde.
»Weil ich es sage, hast du mich verstanden?« Jimmy stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. Ihre Stimme war ein aggressives Knurren geworden, auf der Stirn zeichnete sich deutlich eine Ader ab. »Du tust, was ich sage. Ich bin dein Kapitän, du hast zugestimmt.«
So ganz richtig war das nicht. Er hatte zugestimmt, ein Freibeuter zu sein, kein persönlicher Beschützer. Und noch dazu für Nic. Hätte er das vorher gewusst, hätte er doch niemals Ja gesagt. Nun würde er für Tage oder sogar Wochen mit ihr auf diesem Schiff eingesperrt sein. Wie sollte das funktionieren?
»Ich will hören, ob du mich verstanden hast!« Nun schrie Jimmy und Alexander wich zurück. Dann drückte er den Rücken durch und antwortete: »Ich habe verstanden.«
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