Es war eine schwierige Woche gewesen. Noch Tage nach Nics plötzlichem Auftauchen redete Amy kaum mit ihm. Das hatte es nicht leichter gemacht, ihr von Jimmys Angebot zu erzählen, bei ihr auf dem Schiff zu arbeiten. So lange wie möglich hatte er es herausgezögert, aber letztendlich hatte er es doch ansprechen müssen. Jimmy wollte am Dienstag seine Antwort, und er fühlte sich verpflichtet, wenigstens darüber nachzudenken.
Sein Herz sagte ihm, er solle ihren Vorschlag annehmen. Er würde so vieles sehen, so vieles erleben und auch wesentlich mehr verdienen. Dagegen war das, was für die Hafenarbeiter abfiel, ein Tropfen auf dem heißen Stein. Er hielt sich jedoch ständig die Gefahren vor Augen, denen er sich aussetzen würde. Stürme, andere Menschen, wilde Tiere, Krankheiten. Nach dazu müsste er Amy alleinlassen.
Am Montag brachte er dann endlich den Mut auf, Amy darauf anzusprechen. Sie schälte gerade das Gemüse fürs Abendessen und er besserte den Boden an einer Stelle aus. Da wurde ihm klar, dass es keine bessere Gelegenheit geben würde. Oder eher: Eine Gelegenheit war so schlecht wie die andere.
»Amy?«
»Hm?«
»Ich habe letzte Woche ein Angebot bekommen.«
»Was für ein Angebot?« Amy legte das Gemüse und das Messer zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Küchenschrank.
»Jimmy hat gesagt, ich könnte für sie arbeiten. Auf ihrem Schiff.«
»Du willst ein Freibeuter werden?« Amy verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das dein Ernst?«
»Das habe ich ja gar nicht gesagt. Ich sagte nur, sie hat es mir angeboten. Und ich habe versprochen, darüber nachzudenken. Ich wollte wissen, was du dazu sagst.«
»Jetzt legst du also Wert auf meine Meinung?«
Ja, den Seitenhieb hatte er wohl verdient. Wobei es mehr ein rechter Haken gewesen war.
»Ich lege immer Wert auf deine Meinung. Wir sollten zusammen entscheiden.«
»Wenn du ehrlich bist, hast du dich doch schon entschieden.« Amys Stimme war leiser geworden. »Du willst gehen. Wie könnte ich dich davon abhalten?«
»Ich will dich nicht alleinlassen.« Alexander ging zu ihr hinüber, um sie in den Arm zu nehmen, doch sie entwand sich seinem Griff.
»Das ist der Grund? Du willst nicht, dass mir etwas zustößt?«
Alexander schluckte. Eigentlich war der Grund ein wenig einfacher. Er war eifersüchtig und wollte nicht, dass sie so lange allein war. Aber dieser Grund war armselig, also nickte er. »Genau.«
»Das ist lieb, aber ich komme klar. Auch bevor ich dich kannte, konnte ich auf mich aufpassen. Und ich bin ja nicht ganz allein.«
»Du meinst deine Mutter?«
Amy nickte.
»Aber sie wird dir kaum helfen können.« Amys Mutter war eine gebrechliche und verwirrte alte Frau. Den lieben langen Tag saß sie am Fenster ihrer Hütte und starrte nach draußen oder lag im Bett. Beim einzigen Mal, als Alexander sie besucht hatte, hatte sie kaum auf seine Gegenwart reagiert. Amy pflegte sie, aber der Gedanke, dass die alte Frau auf Amy aufpassen sollte, war geradezu lächerlich.
»Ich habe es immer schon allein geschafft, ich brauche dich nicht. Fahr ruhig.« Amy fuhr damit fort, das Gemüse zu schneiden.
Sie hatte recht, doch genau das traf Alexander. Sie brauchte ihn nicht. Trotzdem fiel ihm die Entscheidung so nicht leichter.
»Ich werde die Stelle annehmen«, sagte er leise.
Amys Bewegungen kamen zum Stillstand. »Ich weiß«, flüsterte sie.
»Ich habe mehr hilflose Menschen umgelegt als jeder andere Mann oder Frau.« Sie flüsterte die Worte nur, nicht aus Angst vor seiner Reaktion, sondern weil die Erregung, die in ihr hochkroch, ihr die Luft nahm.
»Wie viele?« Er hatte ihr gesagt, was er getan hatte, jetzt war sie an der Reihe, ihm alles zu gestehen, ihn einzuweihen in das, was sonst niemand außer ihr wusste.
»Siebzig? Vielleicht mehr.«
Sechs Tote!
Vanderbilt klopfte an die Tür des Obersten rerum naturalis. Diese Morde mussten aufhören, sie mussten gestoppt werden. Wenn das so weiterging, würde Biota bald keine Wissenschaftler mehr haben. Das wäre der Untergang der Stadt, der Untergang seiner Stadt!
»Herein.«
Vanderbilt stieß die Tür auf. »Sie müssen etwas unternehmen!«, schrie er Thomas Hunt-Morgan entgegen. »Bald wird es keine Stadt mehr geben, über die sie richten können.«
Im Gegensatz zu seinem letzten Besuch wirkte der Oberste grau, er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Abwehrend hob er eine Hand.
»Herr Vanderbilt, ich mache mir genau so Sorgen wie sie es tun. Und ich unternehme alles Mögliche, um …«
»Was genau ist es, das Ihr unternehmt?«, unterbrach ihn Vanderbilt.
»Die Hüter arbeiten mit Hochdruck an der Aufklärung dieser Verbrechen«, antwortete Hunt-Morgen, sah dabei jedoch auf seinen Schreibtisch und nicht auf zu Vanderbilt.
»Sie liefern keine Ergebnisse.«
»Sie …« Der Oberste schien sich einen Moment sammeln zu müssen. »Es ist nicht nur so, dass sie keine Ergebnisse liefern. Es scheint, dass sie bei jedem Schritt, der entscheidend sein könnte, vergessen, was sie herausgefunden haben«, flüsterte er schließlich.
»Vergessen?«
»Ihre Erinnerung scheint nur noch fragmentarisch vorhanden zu sein. Sie folgen plötzlich anderen Befehlen und es sind nicht meine oder die des Rates.« Der Oberste schloss die Augen für einen Augenblick und seufzte. Es schien ihn zu erleichtern, das eben Gesagte mit jemandem zu teilen.
»Sie werden manipuliert?«
»So sieht es aus.«
Schweigen breitete sich im Raum aus. Schließlich war es Vanderbilt, der es brach. »Es gibt jemanden, der uns helfen könnte. Ihr kennt ihn.«
»Wovon reden Sie?«
»Er war ein Hüter, so wie die anderen.«
»Ich möchte gern auf deinem Schiff arbeiten.« Alexander hatte Jimmy auf dem Weg zum Hafenmeister abgefangen.
»Ach ja? Das hat ja lange gedauert.«
»Ich weiß, aber ich habe mich entschieden.« Alexanders Herz pochte heftig. Nun hatte er es ausgesprochen, es gab kein Zurück mehr.
»Schön, schön. Dann mach dich fertig, wir fahren in einer Stunde los.«
»Eine Stunde?« Das war allerdings kurzfristig.
»Ja, was hast du denn gedacht? Dass ich warte, bis du dich endlich bequemst, das Schiff zu besteigen?« Tiefe Linien furchten ihre Stirn.
»Nein, nein, schon gut«, erwiderte Alexander hastig. »In einer Stunde dann.« Jimmy hob die Hand und ging mit langen Schritten den Steg entlang.
Der Hafenmeister stand noch immer vor dem Steg und notierte etwas in einem in Leder gebundenen Notizbuch.
»Bert?«
»Ja, Alexander?« Das Gesicht des Hafenmeisters war rot und mit feinen Adern durchzogen. Er schnaufte.
»Ich muss dir sagen, dass ich Jimmys Angebot angenommen habe. Ab heute arbeite ich leider nicht mehr für dich.« Bereits letzte Woche hatte er Bert darüber informiert, dass Jimmy ihm dieses Angebot gemacht hatte.
»Ich kann nicht gerade sagen, dass es mich freut, das zu hören.« Bert strich sich über seine Halbglatze. »Aber ich kann’s verstehen, weißt du? Es ist eine Chance, eine gute.«
»Ich müsste dann auch jetzt sofort los. Sie hat gesagt, dass wir in einer Stunde abfahren.«
»Kein Problem, geh ruhig. Ich werde einem der anderen Bescheid sagen, dass er heute arbeiten muss. Aber vielleicht denkst du dann ja mal an mich, wenn du etwas findest? Jetzt, wo du doch ein Freibeuter bist.«
»Ja, das werde ich sicher«, erwiderte Alexander erleichtert. »Ich gehe dann jetzt, bis später.«
Читать дальше