»Bis gleich.«
Alexander lief zum Haus zurück und packte in Windeseile seine Kleidung in einen Sack aus kratzigen Pflanzenfasern. Ein Stück Seife wanderte ebenfalls hinein, genau wie sein Kissen. Da er nicht wusste, wo er schlafen würde, hielt er das für eine gute Idee. In der Küche wickelte er getrocknetes Gemüse und gedörrten Fisch in Stoff ein und packte sie ebenfalls in den Sack. Ein letztes Mal ließ er den Blick durch die Zimmer seines Hauses wandern. Nein, hier gab es nichts mehr, was er mitnehmen könnte. Abgesehen davon, dass er ohnehin kaum etwas besaß. Es gab nur noch eine Sache, die er vor der Abfahrt erledigen musste.
Sein Ziel lag in der Nähe des Hafens nicht weit vom Gebäude der Alcalde und dem Arbeitsplatz des Hafenmeisters. Es war ein langer, flacher Bau mit schlichten rechteckigen Fenstern. Auf dem Holz der Wand befanden sich Buchstaben aus Metall: Hospital.
Alexander betrat das Gebäude und schwang sich den Sack mit seinem Hab und Gut auf den Rücken. Dies würde der schwerste Teil an seinem neuen Beruf werden.
In der Eingangshalle begrüßte ihn Mary, eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die die Besucher normalerweise in Empfang nahm und sie nach einer ersten oberflächlichen Untersuchung an den richtigen Arzt oder die richtige Krankenschwester weiterleitete.
»Alexander!«
Mit einem strahlenden Lächeln umrundete Mary die Theke, hinter der sie Formulare ausgefüllt hatte.
»Wie geht es dir? Du bist doch nicht hier, weil dir etwas fehlt, oder?« Eine Augenbraue hochgezogen, musterte sie ihn von oben bis unten.
»Nein, keine Sorge, ich wollte nur zu Amy, ist sie hier?«
»Ja, sie hatte vorhin eine Operation zusammen mit Doktor Bridges. Vermutlich ist sie jetzt fertig und sieht nach den Patienten in Raum 2A.«
2A. Die leicht verletzten Patienten. Zum Glück nicht 5B, die Station, auf der die sterbenden Patienten untergebracht waren.
»Warte, ich bringe dich zu ihr.« Mary griff hinter die Theke und förderte ein Schild zu Tage, auf dem stand: »Ich bin sofort zurück.«
Dann öffnete sie die Tür, die aus der Empfangshalle in einen langen Gang führte, von dem rechts und links weitere Türen abgingen. Im Gang verliefen schmale leuchtende Lampen über die Decke, die den Flur in Helligkeit tauchten. Alle Türen bestanden aus massivem Metall, möglicherweise Eisen, und viele hatten rostige Stellen. Die Schilder neben den Türen wiesen auf die jeweilige Station hin, die sich dahinter befand. Vor der Nummer 2A blieb Mary stehen.
»Warte kurz hier«, sagte sie und verschwand hinter der schweren Tür. Alexander stand allein im Zwielicht und versuchte den Geruch zu ignorieren, der über dem gesamten Hospital lag. Krankheit und Tod.
Nach einiger Zeit – Alexander begann gerade zum zweiten Mal damit, die Fugen auf dem Boden zu zählen – kam Mary wieder heraus.
»Du kannst jetzt rein«, sagte sie in gedämpftem Tonfall. »Bis gleich.« Sie ging den Weg wieder zurück zur Empfangshalle.
Vorsichtig schob Alexander die schwere Tür auf und betrat Station 2A. Er stand in einem Raum, in dem allerlei medizinisches Zubehör in Regalen lag. Verbände, Scheren, Skalpelle. Noch dazu einiges, das er nicht kannte. Auf einer schmalen Theke an der Wand standen Tabletts mit je einem Glas Wasser und einem Brot. Wohl das Mittagsessen für die anwesenden Patienten. Die Betten, in denen die Patienten lagen, waren wuchtige Konstrukte aus Metall, deren Höhe man verstellen und deren Kopfteile man anheben konnte.
Amy war gerade damit beschäftigt, die Kopfwunde einer älteren Frau neu zu verbinden.
»So, fast fertig.« Amy befestigte den Verband und lächelte die Frau an.
»Danke.« Die Frau lehnte sich in ihrem Bett zurück und schloss die Augen.
Amy sah auf und blickte Alexander an. »Komm mit.« Sie zog ihn in einen Nebenraum mit weiterem medizinischen Zubehör. »Was gibt es?« Sie packte Schere und Verbandsmaterial zurück ins Regal.
»Ich habe mit Jimmy gesprochen. Ich fahre noch heute los, eigentlich sogar bereits in ein paar Minuten.«
Amy nickte, ohne ihn anzusehen. »Das habe ich mir schon gedacht.« Sie deutete auf den Sack auf seinem Rücken.
Alexander ging zu ihr und legte die Arme um sie. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Ihr Atem war laut, aber sie weinte nicht. »Ich werde dich vermissen.« Er streichelte sanft ihre Wange. »Und es dauert ja auch nicht so lange, bis ich wieder da bin.« Vermutlich würde er immer nur eine Woche fort sein, selten länger.
»Ja. Pass nur bitte auf dich auf, hörst du? Ich werde dafür beten, dass die Riesenkraken euch verschonen. Und wenn du eine Meerjungfrau siehst, denk immer daran, sie will dich nur hereinlegen. Das sind menschenfressende Monster.«
Alexander drückte sie an sich. »Danke, Amy.«
»Komm nur wieder heil zurück, ja?«
»Mache ich.« Er löste sich von ihr und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Den sanften Schwung ihrer Augenbrauen, die kleinen Falten neben ihrem Mund und die weiße Narbe, sie sich auf der linken Seite an ihrem Kiefer entlang zog. Das Überbleibsel von einem Tauchunfall vor der Küste.
Ein Gefühl fraß sich in den schönen Augenblick hinein wie ein Parasit. Das Gefühl, dass Amy und er nicht zusammenpassten. Dieses Gerede von Monstern und vom Beten. Ihre Ansichten über die Welt. Er glaubte nicht daran und es ärgerte ihn, dass sie es tat. Noch tolerierte er es, aber es vergiftete ihre Beziehung bereits jetzt, das konnte er fühlen. Angestrengt schluckte er und versuchte, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. Passten sie vielleicht einfach nicht zusammen? Hatte er sich so sehr nach einem normalen Leben gesehnt, dass er mit Amy nur zusammen war, weil sie eben da war?
»Amy? Tut mir leid, wenn ich störe, aber Doktor Bridges sucht nach dir. Der Patientin von vorhin geht es schlechter. Sie hustet Blut.«
Eine Schwester stand in der Tür. Sie hatte ein hageres Gesicht und mochte Mitte dreißig sein, wirkte jedoch älter. Ihre herabgezogenen Mundwinkel verrieten, dass sie ihren Beruf nicht mit Begeisterung ausübte. Ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt und unter ihre Schwesternhaube geschoben.
»Danke Jane, ich komme sofort.« Amys Miene war ernst, als sie sich wieder Alexander zuwandte. »Alex, ich muss los. Sei bitte vorsichtig. Ich liebe dich.« Sie drückte seine Hände und verschwand gemeinsam mit der anderen Schwester aus dem Raum.
Alexander sah herab auf seine Finger. Es war sein Glück, dass Amy so schnell fortmusste. Er wusste nämlich nicht, ob er ihr Liebesgeständnis hätte erwidern können. Bohrende Zweifel in ihm ließen ihn glauben, dass die Antwort »Nein« gewesen wäre.
Er erreichte den Hafen völlig außer Atem und lief hinüber zur Edward Teach. Das Schiff lag ruhig im Wasser und war noch vertäut. Er überquerte die Planke und stand an Bord des größten Schiffs, das Roatán zu bieten hatte. Der hölzerne Rumpf war mit langen Metallstreben verstärkt, die im Licht der Sonne golden glänzten. Über einen Teil des Decks spannte sich ein Aufbau aus Bronze, auf dem das Steuerrad thronte. Die drei Masten knarrten in der leichten Brise, die über den Hafen wehte. Abgesehen von den Segeln besaß das Schiff zwei metallische Schaufelräder an den Seiten. Die Kombination aus der Windkraft und der Dampfmaschine machte die Edward Teach zum schnellsten Schiff, das im Hafen anlegte.
»Ah, Alexander, da bist du ja.«
Alexander drehte sich um und sah Jimmy mit einem breiten Lächeln auf sich zukommen. »Wir haben schon auf dich gewartet.«
»Aber ich bin doch pünktlich.« Alexander zog seine Taschenuhr heraus und warf einen prüfenden Blick darauf. »Ich habe sogar noch zehn Minuten.«
Jimmy winkte ab. »Ja, es ist alles in Ordnung. Wir sind nur bereit, jetzt auszulaufen. Du warst das letzte Mitglied der Crew, was noch gefehlt hat.«
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