»Was genau müsste ich tun, wenn ich mitkomme?«
»Das, was die anderen auch tun. Das Schiff steuern, putzen, instandhalten. Aber auch kochen, solange wir unterwegs sind. Wenn wir landen, suchst du nach allem, was wertvoll sein könnte. Du zeigst es mir und wenn ich die Erlaubnis gebe, bringst du es an Bord. Falls wir angegriffen werden, ist es deine Aufgabe, das Schiff und deine Kameraden zu verteidigen.«
Der letzte Teil klang gefährlich.
»Darf ich darüber nachdenken?« Jimmys Angebot kam unerwartet, er war erst wenige Wochen Hafenarbeiter, warum gab sie ausgerechnet ihm eine solche Chance?
Jimmys Gesicht wurde ernst. »Gut, denke darüber nach. Aber nicht zu lange. So ein Angebot mache ich nicht jedem, weißt du? Du hast bis nächsten Dienstag Zeit, dann verschwinde ich wieder von hier.«
Alexander schluckte. Nur sechs Tage. Am besten sprach er nachher mit Amy darüber. Es konnte nicht schaden, sich anzuhören, wie sie über das Angebot dachte.
»Ich muss weiter. Wir sehen uns.« Jimmy hob kurz die Hand zum Gruß und eilte dann den Steg entlang, ihren Männern hinterher. Ihre schweren Stiefel verursachten ein unregelmäßiges Pochen auf den Holzplanken.
Er, ein Seemann, ein Freibeuter. War das eine realistische Vorstellung? Er wollte nicht der Köder sein, den Jimmy auswarf, um Feinde anzulocken oder etwas Derartiges. Er hatte keine Erfahrung, weder auf See noch im Kämpfen. Alles, was er sein würde, war ein Klotz am Bein. Trotzdem reizte ihn die Vorstellung, aufs Meer hinaus zu segeln, über alle Maßen.
»Alex, steh da nich so rum! Der Kahn lädt sich nicht von allein aus!« Loak, ein Junge mit strubbeligen schwarzen Haaren machte eine unhöfliche Geste mit der Hand und grinste dann. »Los, beweg deinen Hintern mal.«
Alexander hatte sich an einiges auf Roatán gewöhnen müssen. Dazu hatte auch die Sprache der Einwohner gehört. Nicht nur, dass die meisten in einem Singsang sprachen, der es schwer machte, einzelne Worte zu verstehen, nein, meistens folgten den Sätzen auch irgendwelche Beleidigungen. Nur waren es keine wirklichen Beleidigungen, sondern ein freundschaftliches Sticheln. So richtig war er immer noch nicht dahintergekommen, wie es funktionierte. Daher hielt er sich bisher noch damit zurück, die Worte zu benutzen, die er hier aufgeschnappt hatte. Was, wenn er sie falsch benutzte? Auf eine Faust im Gesicht konnte er - verdammt noch mal – gut verzichten. Er grinste bei dem Kraftausdruck. Das hatten die Leute in Narau gerne gesagt.
»Jaja«, rief er zurück und machte sich wieder an die Arbeit.
Zwei Schiffe später schmerzte Alexanders Rücken deutlich. Er hatte gehofft, dass sich seine Muskeln mit der Zeit an die Belastung gewöhnen würden, doch das schien nicht der Fall zu sein. Er rieb sich das Kreuz, als ein weiteres Schiff in seinem Sichtfeld auftauchte. Die Segel waren rot, die Masten aus einem dunklen silbernen Metall, das Holz des Schiffes war stark poliert und glänzte im Licht der Sonne. Auf beiden Seiten des Schiffes drehten sich große Wasserräder, die das Schiff auch bei Flaute vorantrieben.
Alexander seufzte. Das konnte nur ein Schiff sein: die Guangdong. Das hatte ihm heute noch gefehlt. Ihr Befehlshaber Chi Yi Sao war ein höchst unsympathischer Mann. Seine schmalen Augen blickten immerzu streng und kalt auf andere herab und seine herabhängenden Mundwinkel vermittelten den Eindruck von Verbitterung. Der schmale schwarze Schnurrbart über seinen Lippen machte es auch nicht besser. Und dann noch dieser Hut … Immer und überall trug er einen schwarzen, speckigen Hut, den man bereits Meilen gegen den Wind riechen konnte. Und auch seine Art machte ihn nicht gerade beliebter. Er schrie viel, kritisierte jeden und schickte seine Seeleute, wie man so hörte, auf Missionen, deren Erfolg recht unwahrscheinlich war. Wer jedoch aufbegehrte, wurde auf einer einsamen Insel zurückgelassen. Man munkelte, dass bereits achtzehn seiner Männer da draußen zurückgeblieben waren. Ob sie tot oder lebendig waren, wusste keiner.
Das Schiff lief in den Hafen ein, die Wasserräder drehten sich rückwärts, um die Geschwindigkeit zu verringern, und die Seemänner warfen dicke Taue auf den Steg, wo die Hafenarbeiter sie befestigten. Währenddessen blieben die Seemänner stocksteif an Bord stehen, ihre Blicke gingen starr geradeaus. Chin Yi Sao, eingehüllt in einen protzigen roten Mantel, schritt an ihnen vorbei und sprang vom Schiff auf den Steg. Alles war still. Alle Arbeiter blieben stehen und sahen ihn nicht einmal an. Seine Schritte waren das einzige Geräusch, das die Stille störte. Er passierte die Arbeiter, doch ganz im Gegensatz zu sonst verzichtete er darauf, einen nach dem anderen anzuschreien. Stattdessen schien er sie gar nicht wahrzunehmen. Schnellen Schrittes hielt er auf den Hafenmeister zu, dessen Miene zu entnehmen war, dass er sich liebend gerne unsichtbar gemacht hatte.
Hielt der Kapitän etwas in seiner Hand? Alexander kniff die Augen zusammen. Vielleicht ein Stück Papier?
Sao blieb vor dem Hafenmeister stehen und begann auf ihn einzureden. Alexander konnte das Gespräch der Männer in der einsetzenden Hektik, die mit dem Entladen eines Schiffes einherging, nicht verstehen, doch das Gesicht des Hafenmeisters wirkte erst wie versteinert, dann hob er abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
Was war da los?
Eine schnelle Bewegung – und Sao drückte ein Messer an die Kehle des Hafenmeisters. Der Mann riss die Augen auf und erstarrte.
War das Saos Ernst? Was war so wichtig, dass er dem Mann auf offener Straße an die Kehle ging – wortwörtlich.
Noch einige Augenblicke lang redete Sao auf den Hafenmeister ein. Der jedoch sah eindeutig so aus, als hätte er keine Ahnung, was Sao eigentlich von ihm wollte. Sao hob die Hand mit dem bräunlichen Etwas, das Alexander zuvor bereits aufgefallen war, und schüttelte sie vor den Augen des Hafenmeisters hin und her.
Als der Kapitän den Hafenmeister endlich losließ, war die Erleichterung unter den Arbeitern deutlich spürbar.
»Was glotzt ihr so? Ich werdet fürs Arbeiten bezahlt, also arbeitet, ihr armseligen Maden.« Sao steckte das Messer wieder ein und schritt so schnell davon, dass sein Mantel hinter ihm her flatterte wie eine Gardine in einem geöffneten Fenster.
Alexander wandte sich zu den anderen Arbeitern um.
»Frag gar nicht erst.« Loak hatte abwehrend eine Hand gehoben. »Ich weiß genau so wenig wie du.«
Eine Menge Fragen wirbelten in Alexanders Kopf umher. Irgendetwas bereitete dem Kapitän, der sonst so gefühllos und beherrscht war, große Sorgen. Ging es vielleicht um das Schiff? War etwas damit geschehen? Oder war auf dem Ausflug etwas passiert? Und was hatte es mit diesem Ding in seiner Hand auf sich?
»Los, machen wir, dass wir hier fertig werden. Ich will nicht, dass Sao wiederkommt, bevor wir alles ausgeladen haben. Der bringt es echt fertig und reißt uns den Kopf ab.« Loak zog an Alexanders Ärmel.
»Du hast recht.« Alexander warf einen letzten Blick in die Richtung, in die Sao verschwunden war. War der Kapitän vielleicht einfach verrückt geworden? Etwas Ähnliches hatten die Hafenarbeiter zuvor schon angedeutet. Wahnsinn, Paranoia, Wutanfälle.
Seufzend machte Alexander sich wieder an die Arbeit. Die Kisten luden sich schließlich nicht von selbst aus. Es war allerdings schade, dass sie von Sao keinen Bonus für ihre Arbeit erhalten würden. Er zahlte allen Arbeitern haargenau den Lohn, der vertraglich für sie festgelegt war. Die anderen Kapitäne legten gerne auch mal etwas Fleisch oder Metall obendrauf, wenn sie gute Laune hatten oder das Schiff besonders schnell ausgeräumt wurde.
Nach und nach ging auch Saos Mannschaft von Bord. Im Gegensatz zu den anderen Schiffsbesatzungen war sie offenbar nicht allzu erpicht darauf, das Schiff zu verlassen. Die Männer schlugen eine andere Richtung ein als ihr Kapitän und verschwanden im Straßengewirr von Coxen Hole.
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