»Aber es muss noch etwas anderes dabei gewesen sein«, sagte ich abschließend. »Tom sprach von weiteren Fotos, von ›wirklich schlimmen‹ – das waren, glaub ich, seine Worte. Fotos, die mit der Grunert-Geschichte zu tun haben? Und wenn, wo sind sie dann geblieben? Wo ist die Diskette, die Tom auf die Festplatte kopiert hat? Jede Menge Fragen, auf die ich keine Antwort habe.«
Es war kurz nach zwei, als ich zahlte und meine Unterlagen zusammensammelte. Ich erhob mich und reichte Franjo die Hand.
Anstatt sie zu ergreifen, legte er seine Linke auf meinen Unterarm und sagte: »Sie haben heute noch zu tun?«
»Ich muss nach Gumpoldskirchen.«
Er nickte. »Haben Sie einen Wagen? Nein? Ich bring Sie zum Bahnhof.«
Das Anwesen in Gumpoldskirchen bestand aus einem alten Vierkanthof, zwei oder drei Geräteschuppen und einer kleinen Schmiede. Ich konnte mich noch an einen großen, brummigen Schmied erinnern, zu dem die Bauern aus der Umgebung kamen, wenn eine Pflugschar gesprungen war. Dann heizte er die Esse an, schwang den klobigen Hammer und tauchte das glühende Metallblatt in einen Holztrog voll Wasser. Doch seit zwei Jahrzehnten blieb die Schmiede ungenutzt. Ein gepflegter Obstgarten mit Weinlaube und Gemüsebeeten gehörte ebenfalls dazu. Weiter außerhalb des Ortes gab es noch ein Pflegeheim, doch dorthin hatte es mich selten verschlagen.
Als Kind waren mir die Dimensionen riesig vorgekommen; der Garten war ein weitläufiger Park gewesen, in dem man sich verirren konnte. Als ich durch das Tor in den kühlen, schattigen Innenhof trat, wunderte ich mich wieder einmal darüber, wie sehr alles zusammengeschrumpft war.
Ein junger Geistlicher, den ich noch nie gesehen hatte, teilte mir mit, dass der alte Pfaffe anwesend war.
»Werden Sie erwartet?«, fragte er höflich.
Ich verneinte. Ich heftete mich an seine Fersen, als er lostrabte, um Dominik in seiner Klause aufzuscheuchen.
Er klopfte an die Tür, dann flüsterte er etwas in den Raum, und dann brummte eine Bassstimme: »… keine Zeit. Soll sich anmelden. Wir haben hier nicht Tag der offenen Tür.«
Der Geistliche drehte sich zu mir herum und hob bedauernd die Hände.
»Was ist«, rief ich laut. »Seit wann empfängt Don Camillo keine Ketzer mehr?«
Die Tür wurde ganz aufgerissen. Dominik schob seinen Adlatus mit einer Handbewegung zur Seite, als würde er Fliegen verscheuchen.
»Das gibt’s doch gar nicht«, dröhnte er. »Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt!«
»… und er hat wirklich ›Akt der Toleranz gegenüber Andersdenkenden‹ gesagt?« Dominik wieherte erneut los und hielt sich den gewiss nicht unbeträchtlichen Bauch, der im Rhythmus seines Gelächters mitschwang.
»Du bist fett geworden«, sagte ich, nachdem er sich beruhigt hatte. Wir saßen in der Weinlaube auf Heurigenbänken und tranken kalten Messwein aus dickwandigen Henkelgläsern. Hier draußen war es merklich kühler als in der staubigen Stadt. »Ein feister, ausgefressener Pfaffe«, ergänzte ich genüsslich. »Wie Bruder Tuck.«
»Bruder Tuck wird dir gleich zeigen, wo Gott wohnt«, brummte er erbost und schnappte sich eine Handvoll Käse-Halasz, die er auf einen Sitz verschlang. »Aber ernsthaft, Bürschchen: Weißt du, wer heute Morgen bei mir anrief?«
»Immermann?«, schlug ich grinsend vor. Ich wusste, dass der Bischof auf Dominiks Werteskala noch tiefer rangierte als sein marianischer Kardinal. Etwa einen Kilometer tiefer.
»Nicht ganz«, sagte er, kaum ungehalten darüber, dass ich ihm die Pointe ruiniert hatte, und wiegte seinen massigen Schädel hin und her. »Aber schon recht gut. Der Anruf kam aus seinem Büro.«
»Mir fehlen die Worte.«
»Gott sei’s gedankt. Sie wollten wissen, wie lang ich dich kenne, was ich über deine Arbeit weiß, wie du’s mit der Religion hältst, ob ich dir in jungen Jahren die Beichte abgenommen habe, ob du – wie war das gleich? – seriös bist, als Journalist, du weißt schon.« Er steckte sich eine filterlose Gitane an, inhalierte mit sichtbarem Genuss und ließ den Rauch langsam durch die Nase entweichen. Nicht alles ist light in diesem Leben.
»Woher wissen die, dass wir befreundet sind?«
Dominik zuckte mit den mächtigen Schultern. »Weiß der Teufel … Es ist schon sehr merkwürdig, dass Immermann dir ein Interview vorschlägt. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«
»Apropos Interview«, begann ich vorsichtig. Ich hielt es für eine gelungene Überleitung. »Ich bin heute Günther Abfalter begegnet –«
Weiter kam ich nicht. Offensichtlich hatte ich von allen möglichen Wegen den schlechtesten beschritten. Blitzschnell veränderte sich Dominiks unbekümmerte Körperhaltung; er ähnelte jetzt einem Boxer, der zur finalen rechten Geraden ansetzt.
»Daher weht der Wind! Oh nein, Paul, vade retro – kein Wort mehr darüber!« Er hieb mit einer kindskopfgroßen Faust auf den Tisch, dass die Gläser wackelten.
»Nimm Rücksicht auf mein Trommelfell«, warf ich ein. »Alles, was ich von dir wissen will, ist …«
»… was mir Abfalter während der Beichte gesagt hat. Vergiss es.« Er trank sein halb volles Glas leer und schenkte sich nach, ohne mich zu bedenken. In der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Vielleicht hatte Dominiks Stimme sein Zeitgefühl durcheinandergebracht.
»Du verstehst mich falsch. Es ist mir wichtig, dass –«
»Ich versteh dich sehr gut. Glaubst du, du bist der Erste, der es versucht? Jeder männliche Journalist in Österreich würde sein rechtes Ei dafür hergeben.«
Wider Willen musste ich lachen. Und während ich lachte, wuchs die Wut über so viel Sturheit.
»Du bist sexistisch«, sagte ich. »Was ist mit den Frauen?«
Er grunzte.
»Sei so gut und hör mir zu, ohne Rambo in Kutte zu spielen.«
»Nein«, sagte er und zielte mit seinem dicken Zeigefinger auf meine Nase. »Du hörst mir zu, Paul. Du bist, wie gesagt, nicht der Erste, der das wissen will, und du kriegst die gleiche Antwort wie die Kleine, die die ganze Sache aufgebracht hat, und alle anderen aus eurer blöden Branche. Die Antwort heißt: Beichtgeheimnis.«
Abermals krähte der Hahn.
»Du sturer Hund«, rief ich, »ich will nicht, dass du dein Schweigegelübde brichst. Sag mir nur: ja oder nein.«
»Ja oder nein was?«
»Wenn Abfalter gelogen hätte – immer vorausgesetzt, er weiß, was er sagt …«
»Er weiß, was er sagt.«
»… also wenn er gelogen hätte, dann wüsstest du das jetzt.«
»Ja.«
»Ja, er hat gelogen?«
»Ja, ich wüsste es.«
»Weißt du’s?«
»Beichtgeheimnis.«
»Auch dann noch, wenn es um Mord geht?«
»Wie?«
»Liest du keine Zeitungen?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«
Ich schenkte mir nach und sagte ohne besondere Betonung: »Sarah Ortbauer ist ermordet worden.«
»Scheiße«, sagte Dominik, und schließlich: »Sie ist vor ein paar Monaten hier aufgetaucht und hat mir dieselbe Frage gestellt.«
»Und dieselbe Antwort erhalten.«
»Na klar. Letzte Woche hat sie mich angerufen. Da wollte sie wissen, ob mir eine Organisation namens ›Gladius Domini‹ geläufig ist.«
»Und?«
»Nie davon gehört.«
Und da witterte ich etwas. »Wie war noch einmal der Name?«
»Gladius Domini.«
Toms Telefonanruf … Er hatte nicht »Radius Hominis« gesagt, sondern »Gladius Domini«.
»Was wollte die Ortbauer sonst noch, Dom?«
»Das war’s auch schon. Oder warte. Sie erwähnte einen Namen … jemand, mit dem sie sich treffen wollte. Und ob er mir bekannt sei. Ein polnischer Name: Daszyński. Ja, ich glaube, das war der Name. Daszyński.«
Um einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig kam ich am Schwedenplatz an und ging den Rest meines Heimwegs zu Fuß. Es war noch nicht dunkel, und die schwüle Stadtluft hüllte mich ein in eine stinkende, schweißtreibende Umarmung, die unwillkommener nicht hätte sein können. Den Abend verbrachte ich auf der Couch lümmelnd in meinem Wohnzimmer, in das Pressematerial über Immermann vertieft, das ich schließlich gegen Karlheinz Deschners gesammelte Werke eintauschte, um meinen Aggressionspegel noch ein wenig anzuheben. Ich trank Tee, rauchte drei Zigaretten und rief ein paar Leute an, unter anderem Sergej Markow, der mich für morgen zum Mittagessen einlud. Kurz nach Mitternacht schwirrte mir der Kopf, und ich warf mir die Jeansjacke über die Schulter, um dem jungfräulichen Tag meine Reverenz zu erweisen.
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