POLLY HORVATH
Aus dem Englischen von Anne Brauner
DER IRRTUM
EINE EINLADUNG ZUM ABENDESSEN
DIE SPIELE
EINE LETZTE FRAGE
DER PLAN
SCHWEBEND
DIE ZEITMASCHINE
CONEY ISLAND
FREDDY UND DELIA
TANTE HAZELNUTS SCHMUCK
ENTFÜHRT
NEUE LEBEN
DER ANZUG
DER PRÄSIDENT
IM VERBORGENEN
EIN FREUND
ÜBERRASCHUNG
FÜR
ARNIE, EMILY, ANDREW,
ZAYDA, BONNY UND MILDRED
Rupert Brown wohnte mit seiner großen Familie in einem sehr unscheinbaren Häuschen am Stadtrand von Steelville in Ohio. Rupert hatte so viele Brüder und Schwestern, dass es sich anfühlte, als würde er in einem eigenständigen kleinen Staat wohnen. Sie krabbelten über die Möbel, sie rannten hinein und hinaus. Sie waren groß und klein, Jungen und Mädchen – mit hellbraunem Haar, einer spitzen Nase, hohen Wangenknochen und schmalen Lippen. Sie waren alle dünn.
Die Browns hatten so viele Kinder, dass Mrs Brown behauptete, sich die Namen nicht mehr merken zu können. Meistens sprach sie ihren Nachwuchs mit «Hey du» an. Es gab Geschwister, die Rupert kaum kannte und mit denen er nur selten redete. Innerhalb der Familie mit ihren vielen Geheimnissen und getrennt voneinander verlaufenden Werdegängen wurden die verschiedensten Bündnisse geschlossen. Wenn man dicht aufeinanderhockt, muss es noch lange nicht gemütlich sein. Zeitweise ist es einfach nur eng.
Mit zehn Jahren lief Rupert so unauffällig in seiner Familie mit, dass ihm höchstens seine sechsjährige Lieblingsschwester Elise Beachtung schenkte. Sie waren beide still und schüchtern und gaben sich große Mühe, den anderen aus dem Weg zu gehen.
Kurz vor Weihnachten brachten Ruperts große Brüder John und Dirk eine Katze mit nach Hause. Da sie häufiger Katzen klauten, hegte niemand einen Zweifel daran, dass auch dieses Tier keine Streunerin war. Vielleicht entführten die Brüder sie, weil sie sich heimlich nach einem Haustier sehnten, wenn sie auch behaupteten, nur ihren Spaß haben zu wollen.
«Fangen und freilassen. Wie beim Fliegenfischen, nur mit Katzen», erklärte John, als er die neue Katze hochhielt, um sie seiner Mutter zu präsentieren. Er sah sie so wehmütig an, dass Rupert überlegte, ob er darauf hoffte, die Mutter würde sich in das Tier verlieben und ihnen erlauben, es zu behalten.
«Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt damit aufhören!», kreischte Mrs Brown, die gerade von der Arbeit gekommen war. Sie putzte Büros im Stahlwerk.
Sie marschierte durchs Zimmer, packte die Katze und schleuderte sie in den Hinterhof. Dann knallte sie die Tür zu.
Elise sah besorgt aus dem Fenster. «Die Katze liegt reglos da», flüsterte sie Rupert zu, als er sich neben sie stellte.
«Ich sehe mal nach ihr», flüsterte er zurück. Ihre Mutter war in die Küche gegangen, um den dünnen Haferschleim zu kochen, den sie ihnen mit den Essensresten anderer Leute, die der Vater täglich auflas, üblicherweise zum Abendessen servierte.
Alle Kinder der Familie Brown waren auf der Hut vor ihrer Mutter. Sie schlug gerne einmal zu. Oder sie nahm beim Fernsehen eins der jüngeren Kinder auf den Schoß und knuddelte es, als würde diese liebevolle tröstliche Person ihr wahres Ich verkörpern. Da man nie wusste, welche Mutter aus ihr herausbrechen würde, war Vorsicht geraten.
Draußen war es kalt und Rupert graute es, als er zu der Katze schlich. Was, wenn sie verletzt war? Was sollten sie dann mit ihr anstellen? Seine Mutter würde ihr mit Sicherheit nichts zu essen geben und hatte auch kein Geld für einen Tierarzt. Doch Rupert konnte das Tier nicht einfach seinem Schicksal überlassen, oder? Musste er die Katze am Ende selbst töten , um sie zu erlösen? Er hatte keine Ahnung, wie man so etwas machte. Und wenn er der Katze helfen und gleichzeitig seine Mutter von ihr fernhalten musste? Und wenn sie nun schon tot wäre, was dann?
Gerade als er nah genug dran war, um zu sehen, dass sie noch atmete, fuhr ein Polizeiwagen die Straße hinauf und hielt vor dem Haus der Browns. Während Rupert über der Katze kauerte, konnte er beobachten, wie die Wagentüren geöffnet wurden und zwei Polizisten ausstiegen und zur Tür gingen. Oh nein, oh nein! Sie wollten bestimmt seine Brüder verhaften. Wenn sie die Katze fänden, würden sie dann alle drei mitnehmen, John, Dirk und ihre Mutter, die Katzenquälerin?
Als Rupert die Hände nach der Katze ausstreckte, blickte sie ihn erschrocken an, rappelte sich mühsam auf und humpelte über den Hof. Bei dem Sturz hatte sie sich offenbar am Bein verletzt. Rupert lief ihr nach, um ihr zu helfen und sie gleichzeitig vor den Polizisten zu verstecken. Er hob sie hoch und trug sie zu dem leeren Werkzeugschuppen in der Ecke, als die Hintertür geöffnet wurde. Dirk und John rannten hinaus, sprangen über den Zaun und rasten über das Nachbargrundstück.
«Ich komme gleich wieder», flüsterte Rupert der Katze zu, bevor er still und unauffällig ins Haus ging.
«Was fällt Ihnen ein!», hörte er seine Mutter an der Haustür sagen. «Uns Tag und Nacht wegen irgendwelcher Katzen zu belästigen.»
«Mrs Fraser hat ausgesagt, sie hätte genau gesehen, wie Ihre Söhne sich die Katze geschnappt und mit ihr weggelaufen sind», sagte einer der beiden Polizisten mit müder Miene.
«Bitte schön, durchsuchen Sie das Haus!», schrie Mrs Brown. «Stellen Sie die Hütte auf den Kopf und suchen diese Katze. Viel Glück!»
«Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Katze freigelassen haben?», fragte der andere, der genauso erschöpft aussah. Sie hatten beide müde, unglückliche Polizistenaugen. So sahen Menschen aus, die alle traurigen Varianten menschlichen Fehlverhaltens kannten, und gesehen hatten, was für schreckliche Dinge die Leute einander antaten, und gleichzeitig wussten, dass sie trotz aller Müdigkeit und Traurigkeit weiterhin an Türen klopfen und für Ordnung sorgen mussten.
Elise nahm Ruperts Hand. Er drückte sie, als plötzlich Mr Brown mit einer großen Tüte Küchenabfälle an der Veranda auftauchte.
«Schon wieder die Bullen?» Er drängte ins Haus, wo es nur wenig wärmer war als draußen. «Möchten Sie einen halb aufgegessenen Taco?», fragte er einen der beiden Polizisten übertrieben gastfreundlich und kramte in der Tüte mit Möhrengrün und fast leeren Chipstüten. «Er muss hier irgendwo sein. Ist noch fast das ganze Fleisch drin.»
«Nein, danke.» Der andere Mann hob die Hand. «Ich habe gerade gegessen.»
«Ein Stückchen Twinkie-Cremeküchlein?»
«Nein, echt nicht.»
«Ich hätte noch eine Flasche Blaubeersirup. Den hat wohl einer probiert und ihm hat’s nicht geschmeckt», sagte Mr Brown.
«Darauf schwimmt schon Schimmel», sagte der Polizist.
Mr Brown schraubte die Flasche auf und trank einen Schluck. «Bisschen herb!»
«Zu ihren Söhnen, Mr Brown.» Der Polizist startete einen neuen Versuch.
Als Mrs Brown die beiden Polizisten vernichtend ansah, tauschten sie einen Blick. Sie nahmen ihre Umgebung genau wahr: die abgewetzten Möbel, die schmutzigen Kinder in ihren verdreckten Lumpen, die Eiseskälte im Haus, Elises und Ruperts verängstigte Mienen – die anderen Kinder waren nacheinander die Treppe hochgeschlichen, nur fort von der Polizei und dem Zorn ihrer Mutter.
«Wir möchten uns kurz mit ihnen unterhalten, Mrs Brown», sagte der eine Polizist. «So geht’s nicht weiter. Jeder weiß, dass Ihre Söhne Katzen entführen. Wir sollen durchgreifen, fordern die Leute.»
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