Thomas Christen - Im Schatten der Hundstage

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… und dann gibt es die, die suchen und verloren gehen. »… für immer?«, fragte er. »Ein mutiger Entschluss. Und ich will Ihnen auch sagen, warum ich das glaube. Ich glaube, dass man sich ändern muss, wenn man – so wie Sie – endgültig von hier nach dort geht. Hier will man nicht bleiben. Das Dort kennt man nicht. Ja, ich glaube, man muss sich ändern. Sonst ist das Dort über kurz oder lang wie das Hier. Jetzt hätte ich erwartet, dass Sie lachen! Das Leben ist wie ein flüchtiger Blick aus dem Seitenfenster eines fahrenden Autos. Alles zieht rasend schnell vorbei. Nichts, das man festhalten kann. Lichter, Schatten, graue und bunte Streifen. Reflexe. Nur im Rückspiegel erkennt man einen kleinen, klaren Ausschnitt …« Sechzehn Geschichten über das Verlorengehen. Über die Dunkelheit, der man zu entrinnen versucht. Über Lichter in der Ferne und die Schatten des Alltags. Über den Verlust der Worte und die Suche nach einem Sinn. Über Eitelkeit, Wahn und Selbsttäuschung.

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Thomas Christen, Jahrgang 1955, lebt in Düsseldorf und studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Trier sowie später Agrarwissenschaften an der Universität Bonn. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit in einer Heidelberger Klassikproduktion gründete er im Jahr 2000 das audio-visuelle Konzeptlabel tomtone music ( www.tomtone.de).

Er schrieb über zwanzig Jahre Texte für Künstler wie Udo Jürgens, Milva, Veronika Fischer oder das Bremer Ensemble Mellow Melange und verfasste zwei Drehbücher für Music-Features im Auftrag des ZDF.

Im Jahr 2012 wurde sein Debutroman Der Abend vor der Nacht im secession Verlag Zürich/Berlin veröffentlicht.

Des Weiteren sind von ihm die beiden Lyrikbände Ferngespräche (2007) und Windweit der Mensch (2010) sowie die Romane Winterfieberoder die Überreizung einer Seele und Die Privilegierten (eBook) (2013) erschienen.

Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Thomas Christen

IM SCHATTEN DER

HUNDSTAGE

Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.deabrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel Thomas Christen IM SCHATTEN DER HUNDSTAGE Erzählungen Engelsdorfer Verlag Leipzig 2014

Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de

Jesus’ blood ... und dann gibt es die, die suchen und verloren gehen.

... denn ich wache über euch

Im Schatten der Hundstage

Selma Leitner

Pfr. Kurt Bachmann

Laura Simonsen

Nach dem Winter

Die letzte Fahrt der General Slocum

Haiku

Blindes Licht

Canes venatici (Jagdhunde)

Bis wir uns finden

Der Bericht der Petra Roth

frei nach Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“

15°53’29’’S – 54°31’24’’O

Schwarz/Weiß - Epilog zum Roman „Winterfieber – oder die Überreizung einer Seele“

Im Schatten der Hundstage

Gestreute Blümchen

Die Haltestelle

Anmerkungen

... wenn der Roman wie ein verwirrendes Renaissancegemälde ist, dann ist die Kurzgeschichte wie ein impressionistisches Tableau. Sie sollte eine Explosion der Wahrheit sein. Aus der Erzählung ist die Bedeutungslosigkeit vollkommen verbannt, während andererseits das Leben die allermeiste Zeit bedeutungslos ist.

William Trevor

... und dann gibt es die, die suchen und verloren gehen.

JESUS’ BLOOD

Er hängte die braune Wollmütze an einen der Messinghaken neben der Haustüre und kämmte sich langsam mit der Hand die Haare aus der Stirn. Er spürte einen kurzen Nadelstich an seinem Mittelfinger, senkte mit einem kaum hörbaren Seufzer ein wenig den Kopf und nestelte sich das winzige Stück abgebrochenen Ginsters aus den Haaren. Die Sonne hing wie eine große, glühende Münze in der Mitte des Türrahmens, warf einen Lichtkegel auf die Holzdielen des Flurbodens und hüllte den kleinen, explodierenden Staubnebel vor seinem Hosenbein in ein honigfarbenes Universum, als er sich mit der anderen Hand über den Cordstoff strich. Heute würde ich dich gerne hereinbitten, wenn es denn möglich wäre. So oder so ähnlich hatte sie es einmal gesagt. Er beschattete seine Augen und schaute einen kurzen Moment durch die offene Türe hinaus über das Heidekraut und den schmalen Streifen Meer, hin zu diesem gelben Stern, der unmerklich auf den Horizont sank. Er räusperte sich leise, legte das abgebrochene Stück Ginster und die zerdrückte gelbe Blüte in die leere Tonschale unter den Wandspiegel und betrachtete sie einen Augenblick. Giftig bist du. Und dennoch eine kleine Schönheit. Er merkte, wie seine Zunge über die Zähne fuhr, eine Angewohnheit, eine dumme Eigenart, die er an sich nicht mochte. Ein Bild. Worte. Aber gedacht hatte er sie. Er warf einen Blick auf die Küchentür, die einen Spalt offen stand und durch die, kaum hörbar, Musik erklang. Heute, meine Liebe, habe ich es leider vergessen, sagte er wortlos. Heute waren andere Dinge wichtiger gewesen. Sie liebte diese Pflanze, ihren flüchtigen Duft nach Honig, das Surren der Hummeln, die im Sommer allgegenwärtig waren, und manchmal schnitt er ihr auf dem Heimweg vom Hof ein paar Zweige ab, steckte etwas Heidekraut, ein paar Birkenzweige oder Blaubeergrün dazu und legte es ihr auf den gelben Obstteller neben der Spüle. Am Anfang hatte sie ihm zwei-, oder dreimal morgens stumm die Handschuhe hingehalten, aber er hatte kaum merklich den Kopf geschüttelt und sie nicht genommen. Die Dornen hatten ihm noch nie etwas ausgemacht.

Langsam hob er seine beiden Hände und betrachtete die schmutzigen Handflächen und alten, schwieligen Finger. Sein rechtes Daumengelenk war rot, geschwollen und schmerzte. Ihr Vieleckbein, hatte der Arzt vor fünf Monaten gesagt. Ich fürchte, viel machen kann man da nicht mehr. Sie kennen ihr Geburtsdatum, hatte er unbeholfen nachgeschoben, als wolle er irgendetwas aufmunternd Relativierendes sagen, aber der Satz war zwischen ihnen beiden auf den Tisch gefallen wie ein in der Ferne abgeschossener Vogel, der lautlos hinter dem Horizont verschwindet. Jetzt, wo ihn für ein paar Herzschläge lang nichts ablenkte, spürte er auch wieder seine beiden Fußknöchel, die sich anfühlten, als habe jemand den Knorpel durch winzige Eisenspäne ersetzt. Mit zwei Fingern massierte er sich das Daumengelenk und betrachtete gedankenverloren sein Spiegelbild. In all den Jahren hatte die Mütze in den Haaren auf seinem Hinterkopf eine ständige Delle hinterlassen, die nur für ein paar Stunden verschwand, wenn er ein Bad genommen hatte und die im Winter noch deutlicher zu sehen war, dann, wenn er seine schwarze Kappe trug und abends abnahm. Eine kleine, graue Welle, die immer wirkte, als springe sie ihm gleich in den Nacken. Er wusste, dass sie da war. Er spürte sie, wenn er mit der Hand über sein dünnes Haar strich. Zu Anfang hatte sie es auch manchmal getan. Vor dem Zubettgehen.

Jacob hatte kein Wort gesagt. Er und Mitch hatten nur einen kurzen Blick auf das Loch im Zaun geworfen, sich umgedreht und waren schweigend zurück zum Hof gegangen. Sie hatten die Gegend fast drei Stunden abgesucht, aber die beiden Schafe nicht gefunden. Er hatte Minuten lang vor den zerbrochenen Pfählen gestanden und seinen Blick immer wieder von den blaugefärbten Wollfetzen am auseinandergerissenen Draht zu seiner rechten Hand und zurück wandern lassen. Und dann den hochgeschossenen dunkelroten Ampfer vor seinen Füßen wie in Trance mit der linken Hand auszureißen begonnen.

Sein Zeigefinger spielte mit der Ginsterblüte in der Schale und schob sie von Rand zu Rand. Irgendetwas ist anders, nicht wahr?, fragte er das Gesicht, das ihn schweigend ansah. Es klingt so fremd. Falsch. Sag mir, was es ist? Aber der alte Mann im Spiegel schwieg, und er drehte sein Gesicht zur offenen Haustüre, wo die Sonne in der Ferne anfing dunkle Orangetöne anzunehmen und zu flimmern. Der Lichtkegel war ein paar Schritte in den Flur hinein geflossen und lag auf seinen dreckverschmierten Schuhen, als wolle er die Klumpen dort lautlos ausbrennen. Kümmere dich noch zwei Stunden um die Senke, hatte Jacob ihm vom Gatter aus zugerufen. Wir machen das hier schon. Er war hinunter an den Weidegrund gelaufen, wo sie seit Tagen den Entwässerungsgraben ausbesserten, hatte gegraben, Ginster, Brombeersträucher und verrottete Tonrohre herausgerissen, am Ende das Werkzeug auf den kleinen Anhänger des Traktors geladen und alles zurück auf den Hof gefahren. Er konnte Jacob schon von Weitem sehen. Der Mann stand am Wegesrand, knietief im Heidekraut und schien die beiden Schafe durch pure Willenskraft in sein Blickfeld zwingen zu wollen. Sie hatten sich eine Weile schweigend angeschaut. Was ist los? Sag mir, was los ist? Du weißt, dass wenigstens eines der Schafe von Deinem Lohn abgeht? Wenn wir sie wirklich nicht mehr finden. Du weißt, dass wir jedes einzelne brauchen.

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