Er hatte Jacobs fragendem Blick standgehalten und nur genickt. Sie hatten kein weiteres Wort gewechselt. Er wusste, dass nur ihm die Wege durch die Welt des Schweigens so vertraut waren wie keinem anderen, und er wusste, dass Jacob es seit langem aufgegeben hatte ihn manchmal ein Stück in das Labyrinth aus unergründbarer Stille jenseits dieser unsichtbaren und unüberwindlichen Grenze seiner sprechenden Augen zu begleiten. Er machte sich wortlos auf den Weg in Richtung Meer, nahm den sandigen Trampelpfad und die Abkürzung durch den Wacholder und die Birken hinauf, jeder Schritt wie eine vage Kopie der Schritte, der Tage, Monate und Jahre zuvor, dorthin von wo er wusste, dass sie ihm um diese Zeit die Kanne Tee auf dem Herd warmhielt.
Gib mir noch einen Augenblick, nur einen Augenblick, baten seine Gedanken, und sein Blick streifte die angelehnte Küchentür. Leise machte er die wenigen Schritte zurück durch den Flur, ging durch die offene Tür nach draußen und setzte sich langsam auf die Bank neben dem Eingang. Ein Meer vor dem Meer, dachte er immer, wenn er an solchen Tagen hier saß. Violette und gelbe Wogen. Der Farn, der bereits anfing braun zu werden. Das Rascheln der in der Ferne tanzenden Birkenzweige, die jetzt, in der abklingenden Hitze des sommerlichen Abends wie aus dem fernen Himmel gestanzt aussahen. Die Hand voll knochiger Kiefern, die sich wenige Meter vor der Klippe wie erstarrte graugrüne Gischthügel um die grauen Steine legten. Und der kaum wahrnehmbare Wind aus Surren, Brummen und Geraschel, der alles durchwob und über alles hinwegzog. Gedankenverloren rieb er seine Hände aneinander und maßregelte sich. Was verstanden sie denn von Poesie und schönen Worten? Was waren sie jemals anderes gewesen, als einfache, einem fernen Gott ergebene Kreaturen, die ihrem Herzschlag lauschten und hofften, dass es ihnen vergönnt wäre, diesen tonlosen Klang noch so lange zu spüren wie ihre Körper in der Lage waren zu arbeiten, die darum beteten, dass dieses Schlagen nicht einfach weitergehen würde, dann, wenn diese Körper längst aufgegeben hatten, dem Sinn ihres Daseins gerecht zu werden. Zwei jener sich dort draußen vor dem Sturm und dem Regen duckenden, kleinen Büsche, verwachsen mit sich selber und ihresgleichen und für eine kurze Zeitspanne, ein paar Jahre lang unscheinbar aufblühend, um sich an sich selbst zu erfreuen. Er betrachtete seine beiden Hände, legte sie einen Moment lang neben sich auf das warme Holz der Bank und stand dann auf. Er ging ins Haus, warf einen kurzen Blick auf die schmelzende Sonne und schloss die Haustüre hinter sich.
Sie stand zwischen Spüle und Tisch und drehte langsam einen Teller durch das karierte Trockentuch. Hatte sie an den Abenden, wenn er die Küche betrat jemals woanders gestanden als dort? Der Gedanke wehte kurz durch seinen Kopf und war so schnell verschwunden wie er gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern. Sie nickte ihm unmerklich zu, und dann vollzogen sie für wenige Sekunden das Ritual, von dem er wusste, dass nur sie beide es zu deuten verstanden. Ihre Idee einer Geste. Der für niemanden anders wahrnehmbare Versuch einer mimischen Ausschmückung dieses allabendlich wiederkehrenden Augenblicks. Dieser Hauch eines in alle Ewigkeit zerstörten Lächelns, seine leise Frage: Geht es dir gut? und ihr abermaliges, kaum sichtbares Kopfnicken, von dem er wusste, dass es da war, dem er aber in den letzten Monaten wieder begonnen hatte auszuweichen, indem er seinen Blick auf das Fenster, den Tisch oder irgendeines der Dinge richtete, von denen er wusste, dass sie dort an ihrem angestammten Platz standen, makellos, komplett und rein. Weil sie es so wollte.
Sie hatte den Teller auf den Stapel bereits abgetrockneter Teller gelegt, das Handtuch an den Handlauf des Herds gehängt und begonnen den Tisch zu decken. Sechs Scheiben Graubrot in der am Rand ausfransenden Bastschale, die Kanne Tee auf dem Stövchen, der rotumrandete Teller mit Corned-Beef oder Wurst und das Glas mit Sanddornaufstrich. In einer anderen Zeit, eine Woche nach ihrer Hochzeit, hatten sie festgestellt, dass sie beide für süßen Aufstrich am Abend schwärmten. Eine Scheibe, manchmal auch nur eine halbe, reichten ihnen aus. Und seitdem kam er manchmal von der Arbeit zurück und stellte ein Glas mit Honig, Schlehenmarmelade oder eben Sanddornaufstrich auf den Tisch, das ihm Jacob mit besten Grüßen an seine Frau in die Hand gedrückt hatte. Er war an das Küchenfenster getreten, lauschte dem bekannten leisen Klappern, stellte einen flatternden Moment lang mit einer seltsam aufwallenden, schmerzenden Zufriedenheit fest, dass er auch heute Abend wusste, welcher Gegenstand wohin gestellt wurde, dass er dies wusste, ohne sich dafür umdrehen zu müssen und blickte hinaus auf das Meer und den violettgrauen, untergehenden Abend. Warum hatten ihre Blicke wieder begonnen Vertrautes in anderem Vertrauten als ihrer beider Verbundenheit zu suchen?
Er fühlte es wie an beinahe jedem Abend. Dieses das Haus und ihn selber heimsuchende Gefühl einer alles durchdringenden, giftigen Böe, die sich von diesem Punkt dort unten erhob, um hier herauf zu toben und nichts als Ratlosigkeit zu hinterlassen. Die beiden Kühltürme lagen wie ein schwarzer Scherenschnitt auf dem Strand. Zwei Betonwürfel, dessen Zweck er nicht kannte und das Bürogebäude, in dem sie zum Schluss gearbeitet hatte. Irgendwo im zweiten Stock, mit Blick auf die Heide und den Wald. Einschlafende, graue Schemen, die in wenig mehr als einer Stunde für eine Weile in der Dunkelheit der Nacht verschwanden. Als könne man sie auf diese Weise auslöschen, ausschalten und vergessen.
Ein Fahrer wird Sie nach Hause bringen, hatte die Krankenschwester damals gesagt. Machen Sie sich bitte darum keine Gedanken. Ihm waren keine Worte eingefallen, die er hätte erwidern können. Er hatte sich stumm bedankt und der Schwester die Hand gereicht. Niemand sollte denken, dass ihresgleichen sich nicht zu benehmen wüssten. Aber er hatte nicht gewusst, wie er mit dem Gefühl umgehen sollte, das er damals durch seinen ganzen Körper fließen spürte und das ihm sagte, dass Worte zukünftig keine Rolle mehr spielen würden.
„Ich habe zwei Schafe verloren“, sagte er leise gegen das Fenster, und sein Atem ließ die Scheibe vor ihm kurz und kaum wahrnehmbar beschlagen. Jetzt, wo die Sonne nicht mehr zu sehen war schien es draußen spürbar kühler geworden zu sein.
„Ich werde morgen noch einmal suchen gehen. Vielleicht ist eines von der Klippe gestürzt. Wie im letzten Jahr.“ Damals war es nicht seine Schuld gewesen.
Er hörte, wie das Klappern des Geschirrs verstummte. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken und sah die winzig kleinen Veränderungen, die über ihr Gesicht zogen vor sich auf der dunklen Scheibe. Sie richtete sich auf, und für einen Augenblick lag ihr Spiegelbild genau vor dem kaum noch zu erkennenden Kraftwerk. Unwillkürlich erschrak er, wischte mit einer Hand über die Tasche seines Jacketts und betrachtete die Fensterbank. Sie tat es nicht bewusst. Es war ein Reflex. Ein ihrem Körper eingebranntes Muster, das immer dasselbe Verhalten abrief, wenn er ihr eine schlechte Nachricht überbrachte. Sie griff sich an ihren Haarknoten, ihre Augen weiteten sich einen Moment, und dann sah sie ihn mit diesem Blick an, den er nicht ertragen konnte und in dem sich dieser grauenvolle Kampf von Mitleid für ihn und eigener Schuld spiegelten.
Und am Ende würde sie sich die Hand auf ihren verstümmelten Unterkiefer legen, hilflos diesen Krater bedecken, als wolle sie dieses abstoßende Nichts endgültig vor den Augen der Welt verstecken.
Manchmal, im Winter, wenn sie abends las, er die Zeitung überflog, wenn sie sich gemeinsam etwas im Fernsehen anschauten, oder wenn sie eine Partie Scrabble spielten, trug sie ihren wollenen Rollkragenpullover an dem sie den Kragen dann immer bis zur Nase hochzog. Er mochte das Spiel nicht, denn ihm fielen nie die passenden Wörter ein. Aber manchmal tat er ihr den Gefallen, denn er würde nie vergessen, wie sie ihm damals nach einem beendeten Spiel, kurz nachdem es passiert war, einen Zettel zugeschoben hatte: Ich kann die Worte nicht mehr zum Klingen bringen. Aber wir können sie noch sehen! Er hatte ihr vorgelogen, draußen noch etwas richten zu müssen. Aber wahrscheinlich hatte sie gewusst, dass er nur mit seiner Übelkeit und den aufkommenden Tränen allein sein wollte.
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