Thomas Christen - VR - virtual reality

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Julian Mailen ist Anfang dreißig und Gamedesigner. So erfolgreich er in seinem Beruf ist, so schwer tut er sich manchmal mit den Anforderungen des alltäglichen Lebens. Als seine Eltern in einen Autounfall verwickelt werden, den die Mutter nicht überlebt, stellt dieser Alltag den jungen Mann vor Herausforderungen, denen er kaum gewachsen zu sein scheint.
Der in Folge des Unfalls an Aphasie leidende Vater entgleitet in eine stumme Parallelwelt, die sich dem Sohn verschließt und die er sich in seinen ausgefallensten Fantasien kaum hat vorstellen können.
Aber sein japanischer Freund Akuma und die Erinnerung an die vielen Geschichten, die ihm seine Eltern als Kind erzählten, die überbordende Phantasie seines Vaters, der Rückblick auf sein Leben und nicht zuletzt eine sehr ungewöhnliche Idee der beiden Freunde weisen Vater und Sohn den Weg in eine Welt, die schon immer gesucht wurde und aus einer Welt, die man niemals hätte finden wollen …

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Thomas Christen

VR - virtual reality

Roman

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Inhaltsverzeichnis Titel Thomas Christen VR virtual reality Roman Dieses - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Thomas Christen VR - virtual reality Roman Dieses ebook wurde erstellt bei

AFK - away from keyboard (Frühling 2019)

Freundlichkeit kann man kaufen und von weitem ist alles so klein

EOP - end of play (Winter 2018)

Niemandsland

Newbies & Protters (Sommer 2019)

Die Geheimnisse von Harris Burdick - Tongpartu

SCRUM – In einem anderen Universum (Sommer 2019)

Regen und Regenbögen

L2P - learn to play (Herbst 2019)

The Stranger – Ira Meemo

RL - real life (Winter 2019)

Anmerkungen

Impressum neobooks

AFK - away from keyboard (Frühling 2019)

VR - virtual reality

Wir verändern die Welt. Jeden Tag in hundert verschiedenen Arten.

(Warren Vidic zu Desmond Miles über Abstergo Industries; aus Assassin’s Creed )

‚Es gibt sie – es gibt sie nicht – es gibt sie – es gibt sie nicht ...’

Vorsichtig schreitet er die mausgrauen Platten des Bürgersteigs ab, den Blick starr auf seine Schuhe gerichtet und penibel darauf achtend, keine der teerverschmierten Fugen zu betreten oder auch nur zu berühren. Wenn aus einer der Fugen ein winziges Büschel Unkraut quillt oder die Platte vor ihm einen Riss aufweist, steigt er auf die Fußballen, tänzelt nach rechts oder links oder nimmt, wie ein Storch staksend, zwei Platten auf einmal. Er weiß, was die anderen denken, wenn sie ihn so sehen.

‚Es gibt sie – es gibt sie nicht.’

Er liebt dieses Spiel. Und er kennt unzählige Varianten. Wenn das nächste Auto, das an mir vorbeifährt, von einer Frau gelenkt wird, dann ... Wenn die Anzahl der Schritte bis zur nächsten Ecke eine gerade Zahl ergibt, dann ... schon bald – nie – schon bald – nie ... Wenn der Rosenstrauch im Garten von Nummer Neun um diese Jahreszeit noch wenigstens eine Blüte aufweist, vielleicht ...

Links, rechts, zwei kurze Schritte, oups, um ein Haar wäre das schief gegangen. Er hört den Bus aus der Ferne näherkommen und er registriert aus den Augenwinkeln die Pfütze über dem verstopften Abflussgitter am Bordstein. Ein kurzer Hauch von etwas wie Panik durchweht ihn. Lächerlich. Zwei Storchenschritte und dann hält er sich einen Augenblick lang am Geländer der Überführung fest. Der Bus rauscht vorbei und ein Schwall von Spritzwasser ergießt sich vor seine Füße. ‚Wenn auf der letzten Bank jemand sitzt, dann ...’, schießt es ihm kurz durch den Kopf, aber dann ist der Bus schon vorbei. Auf der letzten Bank hat niemand gesessen. Er lächelt. Es ist ein wenig wie das tägliche Lesen des Horoskops auf der Rätselseite der Tageszeitung. Kollegentratsch nötigt Ihnen im Moment bestenfalls ein Lächeln ab. Heute fehlt Ihnen die richtige Motivation. Der Umgang mit dem anderen Geschlecht dürfte heute ... Was für ein Unsinn! Na ja, vielleicht ... Aber morgen wird er das Horoskop wieder als erstes überfliegen. Jeder weiß doch, dass es ein Spiel ist. Und er liebt diese Spiele. ‚Es gibt sie – es gibt sie nicht – es gibt sie ...’

Als er das kurze, in der Luft hängenbleibende ‚Vorsi ...’ hört, läuft er der jungen Frau fast in den Kinderwagen, den sie vor sich herschiebt. Das Lächeln, das die Frau ihm schenkt, ist das Lächeln, das er schon so oft gesehen hat. Er weiß, was die anderen denken, wenn sie ihn so sehen. Er springt zur Seite, hebt entschuldigend die Hände und meint: „Oh, pardon. In Gedanken. Entschuldigen Sie bitte.“

„Nichts passiert“, erwidert sie freundlich und zieht dem Kleinen im Wagen die Mütze zurecht. Unbeholfen winkt er dem Jungen ein Auf-Wiedersehen zu. Einen kurzen Moment schaut er den beiden nach, und dann fällt sein Blick auf seine Füße. Wie ein kleines schwarzes Rinnsal verschwindet der blasige Teerstrich der Fuge unter seinem Schuh, um auf der anderen Seite wieder hervorzukommen. ‚Es gibt sie nicht’, flüstert er kopfschüttelnd, ‚aber es ist ja auch nur ein Spiel.’

Für Anfang Juni ist es deutlich zu nass und zu kalt. Es hat fast den ganzen Tag geregnet, und er hat sich am Schreibtisch viel zu oft dabei ertappt, wie er minutenlang gedankenverloren die Wasserschlieren auf der Fensterscheibe beobachtet hat. In seinem Team wissen sie Bescheid. Selbstverständlich hat er es ihnen allen seinerzeit erzählt. Sie waren alle ziemlich betroffen. Mittlerweile machen Marie und Sarah aber dann doch ab und zu ihre Witzchen, wenn sie bei ihm vorbeikommen und er geistesabwesend durch die Scheibe starrt. Eine Hand auf seiner Schulter und dann die leise Frage „Wieder afk?“ Er nickt dann meistens nur und müht sich ein Lächeln ab, und wenn Ikem in der Nähe ist und alles mitbekommt, rollt der regelmäßig mit den Augen und sagt zu den beiden Frauen: „Ladies, ihr wisst schon, was mein Name zuhause bedeutet?!“

Auch nur ein Spiel. Vielleicht eine anfangs verunglückte, aber dennoch nett gemeinte Geste, die man jetzt nicht mehr los wird.

Am Arbeitsamt steigt er in die Straßenbahn. Er weiß nicht, wie oft er sich in der letzten Zeit überlegt hat, ob er sich nicht doch ein eigenes Auto anschaffen soll. Er hat nie eines gebraucht. Das Geld wäre nicht einmal das Problem. Bisher hielt er es einfach für Dreck verursachende Verschwendung. Aber praktisch wäre es jetzt trotzdem manchmal.

Als sein Handy summt, zieht er es aus dem Rucksack und liest die Nachricht.

‚Morgen OBI-Wan kommt. Die neue Waschmaschine er bringt. 10.00 Uhr. Wenn nötig noch Geld, ich vorlege. M.’

Matze. Matthias Bogner. Ausgewiesener Kenner des gesamten Star-Wars-Universums und in der Firma Fachmann für die Sounds. Einen Monat nachdem der Vater damals aus dem Krankenhaus zurück war, kam Matze neu ins Team und suchte eine Wohnung. Die Entscheidung, ihm für eine Weile die eigene Wohnung zu überlassen, entstand damals ziemlich spontan, als Matze bei einem ihrer ersten abendlichen Biere meinte: „Die Begriffe ‚Platz für mein Klavier’ und ‚billig’ lassen sich in dieser Stadt in keinen realistischen Zusammenhang bringen.“

Er hatte geistesabwesend in sein Glas gestarrt und irgendwann gemeint: „Du kannst meine Wohnung haben. Zumindest für eine Zeit lang. Ich werde zu meinem Vater ziehen.“ Und dann hatte er auch Matze alles erzählt.

‚Ich werde keine Maßnahmen billigen, die uns in einen Bankrott führen. Ein großer Krieger du bist. J.’ Er weiß, dass Matze seine SMS richtig verstehen wird und dann drückt er auf Senden.

Am Bahnhof steigt er aus und auf dem Weg zur Bushaltestelle geht er noch an einem Kiosk vorbei. Seit er zu seinem Vater gezogen ist, hat er sich angewöhnt, gelegentlich eine Tageszeitung zu kaufen. Und er hat begonnen dieses Relikt aus einer anderen Zeit sogar zu mögen. Früher stand neben der Kaffeetasse und dem Brötchen auf dem Teller der Laptop. Jetzt bleibt selbst für das morgendliche Überfliegen der Überschriften meistens kaum Zeit und er muss zugeben, dass er dem Gefühl, sich im elterlichen Wohnzimmer eine Viertelstunde lang in einen Sessel zu setzen und das billige Papier in Händen zu halten, etwas abgewinnen kann. Außerdem sind die Zeitungen ganz nützlich, denn manchmal sammelt er die Anzeigen- und Reklamebilder, um sie immer wieder seinem Vater vorzulegen. Wenn sie nach dem Abendessen noch eine Weile am Küchentisch sitzen, jedes Mal in der Hoffnung, dass der alte Mann dieses Mal das Wort für das, worauf sein Finger zeigt, etwas klarer und zügiger aussprechen kann.

Als er die Zeitung an der Kasse bezahlen will, ist es wieder da. Dieses Bild und das damit verbundene Gefühl. Ausblenden ist unmöglich. Er kann diesen Moment kein einziges Mal einfach überspringen. Es ist wie ein Überfall, wie ein unabwendbarer Angriff aus dem Hinterhalt. Neben den Tageszeitungen liegen die Stapel aus unausrottbarer Banalität und Oberflächlichkeit. Immer die gleichen Gesichter aus denen unsagbare Glückseligkeit spricht. Papierne Enzyklopädien aus Lügen, Halbwahrheiten und belanglosem Tratsch. Beziehungsgeschwurbel, angesagte Kochrezepte und noch angesagtere Mode. Horoskope. Und jetzt muss er für einen Herzschlag lang kurz lächeln. Wie sehr hat sie diese Zeitschriften gemocht. Er sieht sie so klar vor sich, dass er meint, ihr über die Wange streicheln zu können. Seine Mutter im Sessel, auf dem Schoß die neueste Ausgabe eines dieser Blättchen, auf dem Weg in eines ihrer vielen Paralleluniversen. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der die Kunst des Eskapismus perfektioniert hatte, dann war es seine Mutter.

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