Das meiste von all dem weiß ich nur aus Erzählungen. Und solange ich denken und zuhören kann stand Erzählen bei uns zuhause hoch im Kurs. Jeder meiner beiden Eltern hatte seine eigene Art, Erlebtes noch einmal wiederzubeleben, das Kleine groß und das Große klein zu erzählen, den Unannehmlichkeiten die Spitzen zu nehmen und dann doch manchmal aus der Maus den sprichwörtlichen Elefanten zu machen. Und an Phantasie hat es weder meiner Mutter noch meinem Vater gemangelt. Sie haben beide immer ihre Blumen gefunden. Jeder seine eigenen. Hier und da die gleichen. Und ab und an sogar dieselben. Für meine Mutter war diese Phantasie manchmal guter Geist und Dämon zugleich. Und für mich war sie als kleines Kind immer die Fahrkarte in andere Welten, wenn sie mir abends oder am Wochenende, je nachdem wer Zeit und Lust hatte, vorlasen. Jeder aus seinem höchst unterschiedlichen Kanon aus damals angesagten oder niemals unmodern werdenden Kinderbüchern. Oder aber, wenn es mein Vater war, aus dem Quell einer niemals versiegenden Erfindungsgabe.
Es ist seltsam, dass ich, wenn ich in den letzten Monaten an meine Eltern denke, immer zuerst an meinen Vater denke. Denken will. Diese Gedanken ähneln dann jedes Mal einem langen Umweg, einem unverzichtbaren, tiefen Atemzug bevor sich das Bild meiner Mutter unweigerlich in meine Gedanken zwängt. Bis mir die Luft weg bleibt und ich das Erinnern an einen völlig anderen Ort zwinge.
Meine Großmutter mütterlicherseits war Schauspielerin am Düsseldorfer Schauspielhaus. Es gibt alte Fotos und ein paar verstaubte Schachteln mit Programmheften, Briefen, Besetzungslisten und allerlei in die Jahre gekommenem Krimskrams, die meine Mutter mir ein- oder zweimal unter süffisantem Lächeln und der ein oder anderen despektierlichen Bemerkung gezeigt hat und deren Inhalt für meine Großmutter Elisabeth am Ende ohne Zweifel eine Ansammlung von verklärten Relikten aus einer Zeit wenig erfüllter Träume darstellte. Sie war wohl keine erfolgreiche Mimin, jemand, den man mit kleinen Nebenrollen besetzte, oftmals mit kaum ein paar Sätzen Text, was meine Großmutter mit den Jahren zermürbte und maßlos enttäuschte. Die verkannte und unterschätzte große Künstlerin.
Dass sie unter dem großen Gustav Gründgens arbeitete, war ein schwacher und eigenartiger Trost, denn obwohl man ihr nie die glanzvollen Rollen zuwies, war ihre Ehrfurcht und Bewunderung gegenüber dem bejubelten Mephisto unzerstörbar. Ich erinnere mich an die seltsame Mischung aus Melancholie und Abneigung, mit der meine Mutter immer wieder mal erzählte, wie meine Großmutter bei Festen lächelnd den Leitspruch ihres Bühnengottes deklamierte, ‚Berauscht euch, Freunde, singt und liebt und lacht, und lebt den schönsten Augenblick! Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht, bedeutet Seligkeit und Glück’, und der so wenig mit ihrem eigenen Lebensweg zu tun hatte, weil der Wein, den sie manchmal trank und die Geduld meines Großvaters so gänzlich andere Aufgaben zu erfüllen hatten.
Meine Mutter wollte nicht werden wie ihre Mutter. Und vielleicht war dieser Vorsatz genau der falsche Weg.
Als sie 1960 zur Welt kam, hängte meine Großmutter die Schauspielerei an den Nagel, versuchte mit mäßigem Erfolg eine gute Ehefrau und Mutter zu sein und besuchte bis zu ihrem Tod so gut wie keine Theatervorstellung mehr. Und als meine Mutter fünfundzwanzig Jahre später meinen Vater heiratete, hatte sie selber eine Ausbildung zur Sekretärin und ein paar wenig spektakuläre Jahre bei Löwensenf hinter sich, um ihren Beruf nach der Hochzeit aufzugeben und meinem Vater zwei Jahre lang bei Feinkost Mailen zu unterstützen. Bis zu meiner Geburt, von der an sich meine Mutter entschloss nur noch für die Familie da zu sein, ohne Zweifel in der festen Überzeugung, dass, wenn zwei das gleiche tun, dies noch lange nicht das gleiche ist.
In meinen zu oft stattfindenden Tagträumen stelle ich mir manchmal das Bild und den Augenblick vor, in dem mein Vater zum ersten Mal meine Mutter trifft. Mittlerweile sind es dermaßen detailliert ausgedachte filmische Sekunden, von denen ich weiß, dass sie nichts mit der wahren Vergangenheit zu tun haben, die meine Fantasie aber zu einem so einzigartigen und rätselhaften Mysterium zusammengebaut hat, weil ein solcher Moment und seine Folgen nicht das Geringste mit irgendetwas zu tun haben, was in meinem Leben ähnlich verlaufen wäre. In diesem kurzen Film finden Dinge statt, die ich nicht kenne und die ich trotzdem fühle, Dinge, die ich nicht verstehe und die dennoch Teil meiner selbst und vor allem Teil meiner Träumereien sind. Unvorstellbar und so erstrebenswert einfach.
Die hübsche Sekretärin, die nette junge Frau, die für ein paar Stunden auch die Rolle der Hostess am Löwensenf-Stand auf der ANUGA übernehmen muss und der überaus freundliche und charmante Feinkosthändler, den es aus beruflichem Interesse auf die Messe gezogen hat. ‚Eine Probe gefällig?’ ‚Aber gerne.’ ‚Diese beiden hier sind ganz neu. Probieren Sie! Sehr lecker!’ ‚Vielen herzlichen Dank.’ Ein Lächeln, das erwidert wird. Der Moment am Stand, der nur zu gerne in die Länge gezogen wird. Noch ein Lächeln. Vielleicht ein Prospekt, der gedankenverloren in der Innentasche des Jacketts verschwindet. Und irgendwann Fragen und Antworten, die so einfach zu stellen und zu geben sind, dass ich mich immer wieder über alle Maßen verstört frage, wohin diese Fragen und Antworten, diese Gelegenheiten und Situationen in den Jahrzehnten verschwunden sind und warum aus ehrlicher Leichtigkeit soviel bleierne Zwanghaftigkeit und absurde Verstellung werden konnte.
Ich rede von mir. Nur von mir. Ich weiß ja selber, dass es auch anders geht. Marie Wegener und Jens Große aus dem Team. Akuma und Ikem und ihre Freundinnen. Alles ganz cool und unverklemmt. Matze hat auch irgendetwas am laufen. Alles Beispiele, die als Beispiele nichts taugen. ‚Berauscht euch, Freunde, singt und liebt und lacht, und lebt den schönsten Augenblick!’ Ladet mich mal ein. Nein, ladet mich besser nicht ein. Dumme Fragen und wohlgemeinte Kommentare sind das Letzte, was ich brauche. Alles klar, nett gemeint ... Nein Danke. Außerdem habe ich sowieso keine Zeit mehr für Einladungen. Passt schon ...
Manchmal, selten, träume natürlich auch ich etwas. Mit selten meine ich, dass ich mich beim Aufwachen so gut wie nie an etwas erinnern kann. Bedenkt man, dass ich der Sohn eines Mannes bin, der sein Leben lang mit Lebensmitteln zu tun hatte und der selber der Sohn eines Mannes ist, der sein Leben lang mit Lebensmitteln sein Brot verdient hat, dann erscheint es mir schon reichlich absurd, dass ich mich an einen solchen Traum erinnere, den ich im Übrigen zwei- oder dreimal in irgendwelchen Varianten geträumt habe.
Ich bin ein Zwerg. Ein sehr kleiner Zwerg. Ich weiß das, weil das Dickicht aus weiß und rot blühenden Erbsenpflanzen, durch das ich mich schlage, hoch über meinen Kopf aufragt. Wenn ich an eine der Pflanzen stoße, und das passiert eigentlich unentwegt, dann platzen die Schoten auf und heraus rieseln winzige Klone meiner selbst. Kaum daumengroße Zwerge mit puterrotem Gesicht. Dann überquere ich einen Feldweg, auf dem mich um ein Haar ein riesiges Traktorrad überrollt, das einem Ungetüm gehört, das ich weder gehört noch gesehen habe, um im letzten Augenblick in das nächste Erbsenfeld zu flüchten. Wieder ein Himmel aus roten und weißen Blüten. Nur dass meine kleinen Spiegelbilder, die mir entgegen fallen, während ich durch den Erbsenurwald fuhrwerke, jetzt alle rosa Gesichter haben. Und irgendwann höre ich in der Ferne die Stimmen meiner Eltern, was mich völlig irritiert stehen bleiben lässt, weil meine Mutter mit der Stimme meines Vaters ruft und mein Vater mit der Stimme meiner Mutter. Im Traum weiß ich sowohl, dass das absoluter Unfug ist, weil ich beide ja nicht sehen kann, als auch dass es ganz sicher so ist. Ich weiß es einfach. Und dann wache ich auf und sehe als letztes eine rote, ein weiße und ein rosa Erbse in meiner Hand.
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