„Irgendetwas müssen wir essen, Vater. Ich hatte nicht viel Zeit.“
Es klingt wie eine völlig misslungene Mischung aus Enttäuschung und Anklage zugleich. Ein kaum erkennbares Nicken und ein Blick hinauf ins Nichts.
Er macht einen Schritt auf den Balkon hinaus, stellt sich ans Geländer und zeigt hinauf in die grauweißen Wolken.
„Was ist das?“, fragt er lächelnd, und als sein Vater ihn anschaut, liegt ein seltsames Funkeln in dessen Augen. Er muss das Wort förmlich aus sich herauspressen.
„ ... in ... ina!“
Ein kaum vernehmbarer Seufzer und ein paar Sekunden lang Stille.
„Wolken, Vater, das sind Wolken ... aber, wenn Du möchtest ... vielleicht ist Mutter ja auch irgendwo da oben.“
Und dann nimmt er die Tasse mit hinein und geht in die Küche.
Freundlichkeit kann man kaufen und von weitem ist alles so klein
Feinkost Mailen war eine Institution gewesen. Wie oft in meinem Leben hat mein Vater mir die Geschichte seines Vaters Emanuel erzählt, der Anfang der Fünfzigerjahre angeblich zweimal in seinen Goliath GV 800 gestiegen war, um für Wochen in die Gegend um Mailand und Bologna zu verschwinden, die Nächte neben seinem kleinen Koffer auf einer Matratze und unter einer Wolldecke im Stauraum des erst einmal noch leeren kleinen Busses verbringend, der dann irgendwann wieder vor dem Geschäft in der Hohestraße stand, voll beladen mit Kisten voller Sardinen, Kapern, Olivenöl, Reis, Nudeln, Käse, Wein und Panettone. Das Auspacken und Begutachten der Kisten und ihrer Inhalte hatte beide Male angeblich einem zeremoniellen Akt geglichen. Staunen, studieren, riechen, von dem, was auf den Etiketten stand, kaum etwas verstehen, aber in der prickelnden Vorahnung, wie sich alles in den Regalen ausmachen würde. ‚Wenn ich Ihnen noch etwas empfehlen darf, Frau Müller, frisch hereingekommen, eine Delikatesse.’ Die Geschichte wurde jedes Mal ein wenig umfangreicher, und ich habe jedes Detail geglaubt.
Den Reisen vorausgegangen, so hieß es, war ein umfangreicher Briefwechsel mit einem halben Dutzend Großhändlern und Erzeugern, die sich in den Jahren, die folgen sollten, zu treuen und zuverlässigen Geschäftspartnern von Feinkost Emanuel Mailen entwickeln sollten. La fonte di un'idea aziendale meravigliosa. Übersetzt hatte die Briefe damals angeblich der Ehemann einer Bekannten, und ich habe mir bei jeder Neuauflage der Erzählung vorgestellt, wie der Großvater durch das kleine Büro hinter dem Verkaufsraum auf und ab geht und mit blumigen Worten jenem Antonio Sätze und Höflichkeitsfloskeln in die Feder diktiert, die er niemals auf ihre Richtigkeit hin hätte kontrollieren können. ‚Das dolce vita’, dessen war er sich sicher, ,das dolce vita, bella Italia, der Duft und die Exotik des Mittelmeeres. Wer es sich leisten kann fährt nach Italien, meine Lieben. Warum sollte man nicht ein wenig davon zu uns holen? Damit lässt sich Geld verdienen. Ihr werdet es sehen.’
Wir haben es gesehen. Nun ja, ich selber habe es vielleicht am wenigsten gesehen. Dafür umso mehr geglaubt. Als mein Vater 1955 geboren wurde, war das Geschäft in weitem Umkreis bekannt, die treuen und betuchteren Kunden ließen anschreiben, und die Kinder, die ihre Mütter beim Einkauf begleiteten, bekamen regelmäßig eine kleine Süßigkeit aus dem großen Glas auf der Theke geschenkt. ‚Und, was sagt man?!’
Für meinen Großvater war das Geschäft sein Leben. Nicht, dass er meine Großmutter nicht geliebt hätte. Liebe nach den Maßstäben seiner Generation. Ich kenne keinerlei Geschichten oder Anekdoten, die von Zerwürfnissen oder Streitereien zwischen den beiden erzählen. Aber ohne es erklären zu können, ist das Bild, das ich von ihm habe, das Bild eines Mannes, für den rechtschaffen erworbener Erfolg, uneitle Schönheit und Seriösität das zu achtende und zu wertschätzende Maß aller Dinge waren. Ständig kreisten seine Gedanken um das Wohlergehen des Geschäftes. Und erst wenn diese Gedanken ein wenig zur Ruhe kamen, schien Raum in ihnen für die Familie und meine Großmutter zu entstehen. Als ich selber Jahrzehnte später meinen Eltern zum ersten Mal kundtat, dass ich Medien- und Gamedesign an der MD.H studieren wolle, war meinem Vater zwar die Verwunderung anzusehen, aber wenn er damals wirklich enttäuscht gewesen sein sollte, hat er es auf bemerkenswerte Weise verstanden, dieses Gefühl vor mir zu verbergen. Als ich ihm den Betrag nannte, der bis zum Ende des Studiums an Gebühren zusammenkommen würde, sah er mich nur eine Weile schweigend an. ‚Dann erwarte ich, dass Du nebenbei arbeiten gehst und dich für ein Stipendium bewirbst. Ersteres ist nicht verhandelbar, Julian. Sonst geht es nicht. Mit dem Stipendium müssen wir dann sehen’.
Für ihn selber wäre etwas anderes als der Eintritt in das väterliche Geschäft völlig undenkbar gewesen. Seine Lehre als Einzelhandelskaufmann stand nie außer Frage, und ich muss in diesem Zusammenhang erwähnen, dass man sich meinen Vater auch als wenig anderes als den über alle Maßen freundlichen und liebenswerten Herrn Feinkosthändler Mailen vorstellen kann. War mein Großvater vor allem geschäftstüchtig und korrekt, dann zeichnete sich mein Vater durch seine für mich manchmal überbordende Freundlichkeit und unerschöpflichen Ideenreichtum aus. Wenn meine Mutter manchmal meinte, man könne es mit Entgegenkommen und Verständnis auch übertreiben, dann war seine Reaktion ausnahmslos ein mildes Lächeln und die Entgegnung: ‚Bei mir kann man Freundlichkeit kaufen!’ Ich bin mir noch heute sicher, dass die wenigsten den tieferen Sinn und das damit verbundene Ziel dieser sechs einfachen Worte meines Vaters verstanden haben. Er erzählte gerne, wie mein Großvater angeblich im September des Jahres 1957 nach Köln gefahren ist, weil er sich unbedingt vor Ort ansehen wollte, wovon alle Zeitungen berichteten. Ein Herr Eklöh hatte nach amerikanischem Vorbild in der Rheinlandhalle auf 2000 qm einen sogenannten Supermarkt eröffnet. ‚Das funktioniert nie!’, soll er gesagt haben, ‚und das, was er an Personal einspart, klaut man ihm unter dem Hintern wieder weg.’ Als meine Großmutter vorsichtig eingeworfen haben soll, dass ein solcher Supermarkt aber vielleicht schlecht für das eigene Geschäft sei, soll er nur abgewinkt und geantwortet haben: ‚Papperlapapp, Hilde, du redest Unsinn!’
Wie alle weiß ich heute, dass meine Großmutter keinen Unsinn geredet hat. In den Jahren vor meiner Geburt öffneten in unmittelbarer Umgebung ein italienischer und ein türkischer Lebensmittelladen ihre Pforten, die es zwar heute nicht mehr gibt, aber dafür zehn andere im gleichen Stadtteil. Und als vor sechs Jahren der gigantische Kaufmarkt mit zwei Etagen in gerade mal fünfhundert Metern Entfernung seine Tore öffnete, waren die Tage von Feinkost Mailen gezählt. Jahre, in denen mein Vater eigene Rabattmarkenheftchen gestaltet, kostenlose Warenproben und Hauslieferungen angeboten hatte. Selbstverständlich hatte man die Weihnachtsgans vorbestellen und den Geschenkkorb individuell bestücken können. Zweimal im Vierteljahr waren für die Weinprobe am Samstagnachmittag Stehtische herangeschafft und mit weißen Hutten überzogen worden. Und mein Vater pries an, erklärte, lächelte und verkaufte Freundlichkeit. Er hat niemals nach einem Zeugnis gefragt. Wenn es in den Jahren um eine neue Einstellung ging, brühte er erst einmal Kaffee oder Tee auf, hängte seinen weißen Kittel an den Haken und erzählte dem Bewerber oder der Bewerberin kleine Geschichten. Irgendwann fragte er beiläufig nach Hobbys und Interessen, wieso man ausgerechnet bei ihm anfangen wolle, bis dann am Ende die Standardfrage kam: ‚Und was würden Sie machen, wenn Sie einen Diebstahl beobachten, oder wenn der Kunde Ihnen auf die rabiateste Art und Weise Unfreundlichkeiten und fadenscheinige Beschwerden an den Kopf wirft?’
‚Wir waren nie ein Tante-Emma-Laden. Und die Onkel-Mehmet-Läden haben mich nie gestört’, schimpfte er am Tag nach dem Verkauf, um dann fast eine Woche lang zu schweigen. Wenn ich mich heute erinnere, stelle ich fest, dass es für meinen Vater nie ein Problem darstellte, hier und da freiwillig zu schweigen. Es heißt, dass das Schicksal nichts nimmt, was es nicht gegeben hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich wahr ist.
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