Ich habe noch nie jemand von diesen Träumen erzählt. Ich habe keine Lust auf mitleidige Blicke von einfühlsamen Leuten, die mich insgeheim für paranoid halten.
Die Stimmen meiner Eltern. Ich würde sie unter tausend anderen erkennen, weil ich mich ewig daran erinnern werde, wie sie klangen, sich verwandelten, wenn sie mir ihre so unterschiedlichen Geschichten erzählten. Und weil ich mich heute, im Nachhinein, manchmal frage, warum es eine Zeit gab, in der diese Stimmen auffallend wenig miteinander sprachen. Als kleines Kind registriert man das nicht sofort. Und wenn doch, dann wohl nur, wenn das Schweigen so laut und deutlich ist, dass ein kindliches Gemüt sich in seiner Fantasie die dunkelsten Gründe dafür ausmalt.
Als ich eingeschult wurde, hatte sich meine Mutter verändert. Sie war schweigsamer geworden, ernster und fahriger. Manchmal saß sie in Gedanken versunken am Küchentisch, auf dem Herd kochte irgendetwas vor sich hin, und starrte mit rot unterlaufenden Augen den Kaffeebecher an. Sie stand zunehmend später auf, lief manchmal noch im Morgenmantel herum, wenn ich aus der Schule kam, und ich weiß, dass ich sie zu Beginn meiner Schulzeit ein paar Mal wecken musste, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Diese Male dann ohne Frühstück. Und ich weiß auch, dass es Tage gegeben hat, an denen das Abendessen einfach ausgefallen ist, weil meine Mutter nichts vorbereitet hatte. Vieles passierte nur sporadisch und war, was mich anbelangte, kurze Zeit später vergessen. Puzzlesteine, die erst Jahre danach, und auch nur, wenn man darüber nachdenkt, vielleicht ein Bild ergeben. Allerdings gab es jeden Monat Tage, an denen sie sich so hundeelend gefühlt haben muss, dass sie kaum das Schlafzimmer verlies.
Wenn mein Vater abends nach Hause kam, hängte er seinen Mantel an die Garderobe, schloss für ein paar Sekunden die Augen, und von da an erfüllte eine Aura von Aufmerksamkeit, Gleichmut und Nachsicht die Wohnung, die mir im Nachhinein damals auf eine unerklärbare Art als unheimlich vorgekommen sein muss. Hatte ich irgendetwas pexiert, war irgendetwas vorgefallen, musste ich irgendetwas beichten, es wurde zur Bagatelle erklärt. ‚Kommt nicht wieder vor, Julian. Wir beide wissen das!’
Er hat die Zeitschriften, die er meiner Mutter in dieser Zeit stapelweise vom Kiosk mitbrachte, wahrscheinlich gehasst. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals eines dieser Blättchen, nachdem er sie meiner Mutter übergeben hatte, angefasst hat. Wenn sie sich, leergelesen, auf dem Wohnzimmertisch stapelten, hat er sie nicht einmal zum Altpapier gebracht. Das musste meine Mutter machen. Und eine Woche später wurden die neuen Ausgaben mit gleichen anderen bizarren Geschichten aus den Höllen und Paradiesen einer Parallelwelt, die meiner Mutter an ihren besonders schlimmen Tagen offensichtlich als perfektes Refugium dienten, kommentarlos neu geliefert.
Das Buch, aus dem mir meine Mutter in den vielen Jahren am häufigsten und liebsten vorlas, war Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry. Ich glaube, irgendwann konnte sie weite Passagen des Büchleins auswendig. Jede Figur bekam ihre eigene Stimme, und die des kleinen Prinzen war natürlich die beeindruckendste.
‚An einem Tag habe ich die Sonne dreiundvierzigmal untergehen sehen! Du weißt doch, wenn man recht traurig ist, liebt man die Sonnenuntergänge ...’
‚Am Tage mit den dreiundvierzigmal warst du also besonders traurig?’
Aber der kleine Prinz antwortete nicht, dieser allein mit der Gabe der herzlichen Einfalt und einem unerschütterlichem Vertrauen ausgestattete Sternenreisende, in dem meine Mutter wahlweise und sicherlich nie erklärbar und unbewusst entweder ihr eigenes Alter-Ego gesehen haben muss, oder aber den unerschütterlichen Freund oder Bruder, den jede liebende Mutter ihrem Sohn auf den Lebensweg wünscht. Ich habe keine Geschwister, und jedes Mal, wenn ich diese Jahre Revue passieren lasse, beschleicht mich der Eindruck, dass dieser Umstand der dunklere Teil der erträumten Pläne meiner Mutter war.
Und wenn der kleine Prinz Pause machte, übernahmen das kleine Gespenst , der Räuber Hotzenplotz und vor allem Alice aus dem Wunderland . ‚Wenn ich eine eigene Welt hätte, wäre alles Unsinn. Nichts wäre, was es ist, denn alles wäre, was es nicht ist. Und umgekehrt wäre das, was ist, nicht das, was es ist. Und was es nicht wäre, das wäre es. Seht ihr?’ Ob meine Mutter jemals ahnte, wie oft sie von sich selbst erzählte, ohne es zu wissen?
An den Tagen, an denen meine Mutter unauffindbar in ihrer Drangsal und ihrem stummen Leid versank, übernahm mein Vater. Er verstand sich nicht als Lückenbüßer oder Ersatz. Die von meiner Mutter ausgesuchten Bücher waren ihm alle bekannt, und ich denke, er schätzte sie sogar. Ich glaube, er sah es als Chance an, mir in diesen Momenten auch einmal eine ganz andere Zauberbrille aufzusetzen. Denn seine Geschichten und Erzählungen waren so ganz und gar anders als das, was meine Mutter aussuchte. Da gab es den Maulwurf, der wissen wollte wer ihm auf den Kopf gemacht hatte . Meine Mutter fand das Buch eine ‚seltsame Wahl’, und ihr wäre im Leben nicht eingefallen daraus vorzulesen. Mein Vater hingegen war der Meinung, dass man ‚darüber doch wohl reden müsse.’ Und ich fand den Maulwurf und seine Fragen außerordentlich interessant. Und äußerst witzig! Es gab Jim Knopf , Momo und das Sams , das meine Mutter irgendwie ‚reichlich albern und frech’ fand.
Aber alles wurde überstrahlt, wenn mein Vater eines der Bücher von Chris van Allsburg in die Hand nahm, einen Moment nachdachte und dann anfing zu erzählen. Es waren Geschichten, die in keinem Buch standen. In seinem Lieblingsbuch dieses Autors, und viele Jahre später auch meinem, stand nichts geschrieben. Es gab nur ganzseitige und absolut wunderbare, magisch anmutende Schwarzweißzeichnungen und eine Überschrift auf der gegenüberliegenden Seite. Die Geheimnisse von Harris Burdick . Und wenn mein Vater anfing, wurden diese Geheimnisse nach und nach von seiner Fantasie zum Leben erweckt. Ich weiß nicht, wie oft aus demselben Bild ein Märchen wurde, das etwas völlig anderes erzählte als beim vorangegangenen Mal. Und jede Geschichte, jedes Geheimnis begann in einem kleinen Lebensmittelgeschäft in einer weit entfernten Stadt.
Es war die Zeit, in der meine Eltern gemäß den unergründlichen Regeln einer stummen Absprache zwischen Eheleuten anfingen, jeder für sich Serien im Fernsehen zu schauen und das so zu organisieren, dass man sich nie in die Quere kam. Wenn meine Mutter Golden Girls schaute und nahezu alles, was die Figur der Rose Nylund sagte und tat positiv kommentierte, als aus den goldenen Mädchen Jahre später Desperate Housewives wurden, verkroch sich mein Vater in ein anderes Zimmer und las oder arbeitete. Im Gegenzug verschwand meine Mutter in der Küche, wenn mein Vater zu einer neuen Folge von Star Trek-The Next Generation ins Wohnzimmer kam. Viel später, im Jahr in dem ich Abitur machte und mein Vater mich längst mit seiner Vorliebe für SciFi infiziert hatte, saßen wir zu zweit vor dem Fernseher und schauten gebannt eine weitere Folge der Serie Lost . ‚Ich glaube nicht an Magie. Aber dieser Ort ist anders!’ Und meine Mutter schüttelte den Kopf und meinte: ‚Den verschwurbelten Kram versteht doch kein Mensch!’. Woraufhin mein Vater gelassen abwinkte und antwortete: ‚Regina, bitte! Ich sage ja auch nichts zu deinen alten Schachteln!’
Die Dämonen, die meine Mutter heimgesucht hatten, verschwanden mit den Jahren nach und nach. Ohne dass ich jemals wirklich erfahren habe, was sie ausmachte oder warum sie über sie hergefallen waren. Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag schenkte mein Vater ihr eine zweiwöchige Reise nach Namibia. Auf die selbst gestaltete Geburtstagskarte hatte er einen alten, bärtigen Mann mit Schlapphut in einer Wüste gezeichnet, der aussah wie Herr Tur-Tur, der Scheinriese aus Jim Knopf . Und darunter stand: Geschichten erzählen nie die ganze Wahrheit. Denn von weitem ist alles so klein! Dein dich immer liebender Bernd.
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