Er atmete tief ein und beschloss, Charles zu fragen, sobald er ihn sah. Egal, ob er jetzt schon Schweißausbrüche hatte, wenn er sich das nur vorstellte. Alles egal. Oder? Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dann … war es das wert, nicht wahr? Bestimmt. Natürlich.
Keine Angst, dachte er, ballte die Fäuste und … machte sich fast in die Hose, als Charles' blonder Schopf plötzlich aus der Menge ragte. Ein verführerisches Lächeln blitzte zwischen den hüpfenden Köpfen auf. Oh Gott.
Ich schaff das nicht , dachte er. Auf keinen Fall. Aber … ich muss.
Er straffte sich. Charles kam auf sie zu, soweit er das erkennen konnte. Gut. Schlecht. Keine Ahnung. Kors Herz hämmerte im Takt der Musik, überholte sie … Charles war nur noch wenige Meter entfernt, gleich würde er ihn sehen, gleich würde Kor ihm gegenüberstehen.
Ich muss dich was fragen , übte er im Kopf. Kommst du kurz mit raus? Bitte. Ich …
Was war das?
Charles war nicht allein. Sein Arm lag auf den Schultern der schwarzhaarigen Schönheit, die nach dem Auftritt bei ihm gestanden hatte. Er senkte den Kopf und flüsterte etwas in ihr Ohr. Sie lächelte geheimnisvoll. Ihre dunkel geschminkten Lippen glänzten.
Oh.
Nein. Nein, aber … Das war bestimmt eine gute Freundin. So konnte man ja wohl mit einer Freundin umgehen, die man sehr mochte, und …
Als Charles und ihn nur noch drei Meter trennten, zog der die Dunkelhaarige näher an sich heran und …
… küsste sie. Auf den Mund.
Ein gleißendes Schwert bohrte sich in Kors Brust. Seine Knie drohten nachzugeben. Nein!
Nein. Natürlich hatte Charles … Hatte jemand, der so war wie Charles, kein Interesse an ihm. Natürlich wollte der ein wunderhübsches Mädchen …
Kor schaffte es nicht, ein unbewegtes Gesicht zu machen, als Charles und die Schönheit sich zu ihnen durchgekämpft hatten. Er konnte es nicht.
»Mariella kommt aus Dortmund«, hörte er Charles sagen. Charles, der ihn keines Blickes würdigte. Er stand so weit von Kor entfernt, dass er ihn kaum verstand. »Ich zieh mit ihr weiter, zeig ihr ein wenig die Stadt.«
Die anderen beiden prosteten ihm zum Abschied zu. Kor hatte weder ein Bier noch die Kraft, um sich zu bewegen. Aus Augen, die drohten, überzulaufen, beobachtete er, wie Charles' breiter Rücken und Mariellas schmaler von der Menge verschluckt wurden.
Vollidiot , dachte er. Du Vollidiot. Natürlich hat er kein Interesse an dir.
Er war schon wieder zu aufgewühlt, um loszuheulen. Zum Glück. Wie eine Statue stand er in der tobenden Menge. Sah zu dem Ausgang, durch den Charles und Mariella verschwunden waren. Er fühlte gar nichts. Nur ein Loch, da, wo viel zu viel Hoffnung gewesen war. Da, wo … Er schluckte.
Er hatte es doch gewusst. Bella hatte von irgendwelchen Frauengeschichten gesprochen.
»Der alte Weiberheld«, knurrte Dane. »Dabei wollten wir nachher zusammen zu Marcel gehen.«
»Tja, die Süße war ihm wohl wichtiger«, sagte Sheron. »Du kennst ihn ja.«
»Ist er oft …« Kor wollte eigentlich schweigen, aber er musste es wissen. »Hat er viele, äh, Freundinnen?«
»Der treibt sich schon rum«, sagte Sheron. »Nicht so schlimm wie Nathan, aber genug.«
»Hattest du nicht auch mal das Vergnügen?«, fragte Dane sie und wirkte ein wenig … so, wie Kor sich gerade fühlte. Der hatte das Gefühl, man hätte sein Herz herausgerissen und über eine raue Ziegelwand geschmiert. Die Türkishaarige zuckte mit den Achseln.
»Lange her«, sagte sie und nahm einen Schluck Bier. »Sehr lange her. Damals war ich noch naiver.«
Kor schluckte.
»Naiver?«, fragte er.
Sie sah ihn gleichmütig an.
»Hab geglaubt, er mag mich. Tut er auch, aber ich dachte, er mag mich so richtig. Das denkt man ab und zu, wenn er sich plötzlich um einen kümmert. Dann ist er so intensiv, als gäb's nichts anderes außer dir. Dabei ist er zu jedem so. Der Junge ist begeisterungsfähig, aber ein Windhund.«
Sie trank weiter. Kors Herz stürzte ab.
»Ach so«, murmelte er.
Er wollte gehen. Er musste hier raus, sonst würde er anfangen zu heulen. So schnell wie möglich heim, sich unter der Decke verkriechen, alles vergessen und wieder Korbinian sein, der sich nichts traute. Der nie an einem Ort wie diesem hätte sein dürfen. Er gehörte nicht hierher. Er musste den Bus bekommen.
Oh nein. Mit Schrecken sah er auf sein Handy. Ein Uhr morgens. Er hatte den letzten Bus verpasst! Wie war die Zeit so rasch vergangen? Er musste … irgendetwas tun. Konnte er einfach hierbleiben?
In diesem Moment ging die Band schweißverklebt von der Bühne.
Zugabe , dachte er panisch. Zugabe!
Aber es gab keine. Mist. Die ersten Gäste strömten bereits dem Ausgang zu. Dane und Sheron unterhielten sich noch, aber … Wie lange würden die bleiben? Er sah sich schon an der Bushaltestelle stehen, zitternd, stundenlang. Was, wenn diese drei Typen zurückkamen? Was, wenn ihn diesmal niemand rettete? Wenn …
»Hauen wir ab?« Nathan stand plötzlich neben ihm und schaute in die Runde.
Nein! Kor verfluchte ihn. Noch mehr, als die anderen beiden nickten. Nathan drehte sich um und sah Kor fragend an.
»Kommst du mit?«
Er hatte sich geirrt. Nathan war in Ordnung.
»Ja«, sagte Kor.
Eine Stunde später saß er in einem halbdunklen Raum, lehnte den Rücken an die Wand und hörte Nathan und Marcel beim Spielen zu.
Die Bierflasche in seinen Händen war schon warm. Sein zweites Bier. Mehr traute er sich nicht zu. Er fühlte sich seltsam. Zerbrochen. Blöd und dumm. Er wünschte, Mina wäre hier und würde ihm erklären, was er tun sollte. Er musste sie morgen anrufen. Vielleicht wusste sie, was gegen dieses Gefühl half. Aber Minas Herz war nie gebrochen worden, oder?
Trotz allem fühlte er sich stärker. Dankbar. Er hatte einen Ort, an dem er die Nacht überstehen konnte. Eine überhitzte Zweizimmerwohnung, in der Leute herumstanden und soviel rauchten, dass die Decke aussah, als wäre dort eine Schäfchenwolke festgeklebt.
Aber er mochte es hier. Sehr. Da waren Musik und andere Leute, mit denen er über Musik reden konnte, beziehungsweise solche, die ihm etwas über Musik erzählen konnten.
Von der Decke tröpfelte es. Ab und zu erwischte ein Tropfen Kondenswasser seinen Nacken und rollte unter sein Shirt. Marcels Wohnung hatte bekritzelte Wände und eine Toilette, in die er sich nie wieder trauen würde. Nein, er sollte wirklich bei einem Bier bleiben.
Dane und Sheron dachten anders darüber. Die waren Bier holen gegangen und hatten sich in der Küche verquatscht, soweit er das sehen konnte, aber das war ihm auch recht. So konnte er hier sitzen und in Selbstmitleid baden. Und Nathan und Marcel zuhören. Soweit er das beurteilen konnte, waren sie gut.
Es war faszinierend, wie Nathans Bass und Marcels Gitarre zusammen klangen. Wild und rau und doch melodiös. Nathan gab den Takt vor und Marcel spielte darum herum. Er erinnerte sich, dass Charles ihm angeboten hatte, ihm das beizubringen und sein Kopf sank auf seine Knie. Hatte Charles schon das Interesse an ihm verloren? Er hatte ihm eben nicht mal zugenickt.
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