Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Elias ihn hassen würde. Dass er glauben würde, Charles hätte sich nur an ihn herangemacht, weil alle glaubten, Elias wäre schwul. Dabei hatte er nicht mal gewusst, dass es das Gerücht gab. Aber es schien Elias sehr verletzt zu haben, so, wie der ihn angebrüllt hatte.
Ich bin nicht so, du dumme Schwuchtel! Jedes Wort ein Schnitt. Und dann …
Charles hatte plötzlich keine Freunde mehr gehabt. Vollkommen fertig von Elias' Reaktion hatte er sich zuhause verkrochen. Als er nach einer Woche zurück in die Privatschule gekommen war, hatten alle gewusst, was er war. Erst hatte er nur böse Nachrichten bekommen. Sein Tisch war immer vollgekritzelt gewesen mit Beleidigungen. Aber am schlimmsten war gewesen, dass Elias nicht mehr mit ihm geredet hatte. Dieses Schweigen wog schwerer als all die anderen Dinge.
Dann hatten sie ihn in der Umkleide erwischt, als der Sportlehrer herausgerufen worden war. Und Charles war keiner, der sich einfach verprügeln ließ, also hatte er zurückgeschlagen, bis …
»Junge!« Nathan wedelte mit der Hand vor Charles' Gesicht herum. »Was ist passiert?«
»Ich glaub, er weiß es.« Frostige Kälte drückte ihm die Luft ab. Er sah, dass seine Fingerknöchel blass waren. Dass er sie zu Fäusten geballt hatte, seit … Keine Ahnung, seit wann. »Ich habe … Ich hätte ihn fast geküsst.«
»Ah.« Nathan blinzelte. »Nicht schlecht. Und dann?«
»Er hat sich erschreckt«, flüsterte Charles. »Genau wie Elias. Ich … Meinst du, er glaubt mir, wenn ich so tue, als wäre ich … Als hätte ich nicht … Als wäre das nur Spaß gewesen?«
»Na, vertrauensselig genug wirkt der«, sagte Nathan. Er fuhr sich durch die Haare, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. »Hm. Ich dachte, Elias wäre eine Ausnahme gewesen, aber anscheinend stehst du auf Hänflinge mit Welpenaugen.«
»Anscheinend.« Charles' Kehle war trocken. Mehr Bier. Er brauchte mehr Bier. »Ich … werd's ihm beweisen.«
»Dass du in ihn verliebt bist?«
»Nein. Das Gegenteil, du Idiot.«
»Aber du bist in ihn verliebt. Warum …« Nathan seufzte. »Ich weiß. Ich versteh das. Nur … Was soll passieren, wenn du es ihm sagst? Außer, dass du deprimiert rumhängst und ich dich wieder trösten muss?«
»Dein tolles Trösten hat daraus bestanden, mich abzufüllen.«
»Hat doch geholfen.«
»Einen Scheiß hat das.«
Charles erhob sich. Er wusste, was zu tun war. Er musste das geradebiegen. Er musste dafür sorgen, dass Kor nie von seinen Gefühlen erfuhr. Dass ihre aufkeimende Freundschaft nicht gleich erstickt wurde.
Vielleicht konnte er kälter zu ihm sein? Das war schwer, Kor war einfach zu verdammt niedlich, aber … es musste wohl sein. Es durfte nicht …
Es durfte nie wieder werden wie damals.
War das sowas wie ein Beinahe-Fast-Kuss gewesen? War es das? Oder bildete Kor sich das nur ein? Unschlüssig stand er im Backstage-Bereich und sah auf den Vorhang, hinter dem Charles verschwunden war. Raus gegangen, nahezu gelaufen. Eine rauchen. Seit wann rauchte Charles? Kor hatte ihn nie mit einer Kippe gesehen, okay, er kannte ihn kaum, aber …
Aber Charles hätte ihn eventuell fast geküsst.
Falls das stimmte, hatte Kor es versaut. Wie immer. Irgendwie war er zusammengezuckt, obwohl er sich verdammt nichts sehnlicher wünschte, als dass Charles ihn küssen würde. Er zitterte vor Aufregung, vor Anspannung, vor … Nervosität. Was bedeutete das? Er …
Er sollte aus diesem Backstage-Bereich verschwinden, bevor die Band zurückkam. Die kannten Charles, nicht ihn, und sie würden bestimmt denken, dass er ein mieser Einbrecher wäre, der ihren Whisky klaute … Richtig, die Flasche hatte er immer noch in der Hand.
Er verstaute sie ungefähr da, wo Charles sie herausgekramt hatte und wanderte, halb in Trance, nach hinten zum Konzert. Charles befand sich nicht in der Menge, soweit er sah. Draußen fand er ihn auch nicht. Außerdem war es da kalt, also ging er zurück. Mist.
Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er niemanden außer Charles richtig kannte. Was, wenn die ohne Charles nichts mit ihm zu tun haben wollten?
An der Bar standen Dane und Sheron. Die Band lärmte noch und in der Mitte der Tanzenden sah er den Rest der Gruppe. Vorsichtig schob Kor sich durch die Menge, immer wieder »Entschuldigung« murmelnd, obwohl ihn eh keiner verstehen konnte.
»Hey«, flüsterte er, als er es bis zur Bar geschafft hatte. Dane nickte ihm missmutig zu. Sheron strahlte ihn an.
»Kor! Wo warst du denn?«
»Ich … Charles hat mir Whisky besorgt.«
»Und, hat's geschmeckt?«
»Äh, ich … hab die Hälfte ausgehustet.» Er kratzte sich an der Nase. Sie lachte laut auf.
»Ich kann das Zeug auch nicht leiden. Und, wo ist Charles jetzt?«
»Ich weiß nicht. Draußen, glaub ich.«
»Ach so. Na, du hast ja noch uns.« Sie legte ihren Arm um ihn. »Wir passen schon auf dich auf.«
»Auf mich muss man nicht aufpassen«, murmelte er.
Aber in seiner Brust wurde es warm, sobald er ihre Worte hörte. Selbst Dane schenkte ihm erneut sowas wie ein Nicken. Anscheinend hatten sie ihn adoptiert.
»Gefällt's dir?«, fragte Dane. Er deutete mit seiner Bierflasche auf die Band, deren Sänger sich gerade auf dem Boden wälzte, und dann, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, einen Meter hoch in die Luft sprang und weitersang.
»Ja.« Kor nickte ernsthaft. »Ich … will noch mehr solche Musik hören, glaub ich.«
Ein Licht ging in Danes Augen auf.
»Echt? Dann musst du dir unbedingt Radioactive Raider reinziehen! Die sind die Götter des Medieval Thrash Metal mit Akustikeinflüssen!«
»Aha«, sagte Kor.
»Und hör dir Domspast an. Aber nur die ersten drei Alben, danach sind die total Mainstream geworden …«
» Attack on Köln-Porz ist wohl ein geniales Ding«, mischte Sheron sich ein. »Viel besser als ihr alter Scheiß.«
Dane verdrehte die Augen.
»Das sagst du nur, weil du nicht von Anfang an dabei warst. Früher …«
Ab diesem Zeitpunkt war Kor nur noch an der Diskussion beteiligt, wenn sie ihm rieten, unbedingt (oder auf gar keinen Fall) ein bestimmtes Album zu hören.
Aber das war okay. Er hörte aufmerksam zu, wenn er sich nicht gerade den Hals verrenkte, um Charles zu entdecken. Leider konnte er nicht viel erkennen, klein, wie er war. Er wollte ihn sehen. Ihn fragen, ob das fast ein Kuss gewesen war. Und ihm irgendwie klarmachen, dass er es wirklich gut finden würde, wenn das fast ein Kuss gewesen wäre und dass er ihn gerne echt küssen würde und …
Allein der Gedanke, irgendetwas davon auszusprechen, schnürte ihm den Hals zu. Das konnte er nicht. Nie. Er konnte … Er hatte sich nicht mal getraut, in der Schule aufzuzeigen. Da konnte er doch nicht dem tollsten Mann, der je gelebt hatte, erklären, dass er … dass er …
Aber Kor wollte mutig sein. Wenn Charles vor einem ganzen Raum voll Menschen spielte, sich sogar traute, in die Menge zu springen, dann konnte Kor doch … Immerhin war er heute überfallen und fast verprügelt worden und selbst das hatte er überlebt. Irgendwie fühlte er sich seit gestern stärker.
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