70Es läge nun nahe, sowohl das Vorliegen des Straftatbestandes selbst als auch die Bestimmung der Rechtswidrigkeit (und insoweit also die gesamte Unrechtsebene) rein objektivzu bestimmen und von der Persönlichkeit des Täters abzukoppeln. Dies hätte den Vorteil, dass alle subjektivenElemente als Bestandteile der Schuld angesehen werden könnten und auch dort zu prüfen wären. Vorsatz und Fahrlässigkeit wären demnach reine Schuldelemente und wären vom objektiven Unrecht der Tat abzukoppeln. So sah dies in der Tat der klassische Verbrechensaufbau, der in Deutschland noch bis in die Mitte des 20. Jh. hinein absolut herrschend war, vor. 25Diese Ansicht wird auch als „kausaler“ Verbrechensaufbau bezeichnet, weil hiernach allein die kausale Verursachung einer unerwünschten Rechtsfolge (also z. B. des Todes eines anderen Menschen) das Unrecht der Tat begründet.
Bsp.:Einen Menschen zu töten, ohne dass dabei ein Rechtfertigungsgrund eingreift, stellt nach dieser Lehre stets Unrecht dar. Dabei soll es gleichgültig sein, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat oder gar den tödlichen Erfolg überhaupt nicht vermeiden konnte, weil dieser nicht vorhersehbar war. Auch dann, wenn einem penibel alle Verkehrsregeln einhaltendem Autofahrer plötzlich ein Betrunkener vors Auto torkelt oder ein Kind zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße springt und es zu einem tödlichen Unfall kommt, läge nach dieser Ansicht „Unrecht“ vor und es wäre lediglich die Schuld ausgeschlossen.
71Schon das genannte Beispiel zeigt die Schwächen des klassischen Verbrechensaufbaus. Denn es muss bereits für die Frage des Unrechts eine Rolle spielen, ob nun eine vorsätzliche Tötung vorliegt, die Tötung lediglich fahrlässig herbeigeführt wurde, oder ob der Verursachung eines tödlichen Erfolges überhaupt kein Pflichtverstoß zugrunde liegt. Einerseits muss der Grad des Unrechts bei einer vorsätzlichen Tötung höher sein als bei einer fahrlässigen Tötung (es wird hier eben gerade nicht das gleiche „Unrecht“ begangen, obwohl in beiden Fällen ein Mensch getötet wird), andererseits muss bereits das Vorliegen von Unrecht insgesamt ausscheiden, wenn man demjenigen, der den Tod eines anderen verursacht, überhaupt keinen Vorwurf machen kann, weil er dessen Tod weder vorhersehen noch vermeiden konnte und er sich in keiner Weise pflichtwidrig verhalten hat. 26Insoweit liegt es nahe, subjektive Elemente bereits auf der Ebene des Tatbestandes eines Delikts zu berücksichtigen.
Bsp.:Für diese Überlegung spricht ferner, dass subjektive Elemente bei der Bestimmung des jeweiligen Delikts ohnehin nicht völlig ausgeblendet werden können. So fordern manche Tatbestände ausdrücklich ein besonderes subjektives Element, so z. B. die Absicht rechtswidriger Zueignung beim Diebstahl, § 242 StGB. Wer sich von seinem Nachbarn einen Rasenmäher (eine fremde bewegliche Sache) nur für eine Weile eigenmächtig „ausleihen“, später aber zurückgeben will, der nimmt den Rasenmäher zwar weg, weil er fremden Gewahrsam bricht und eigenen Gewahrsam begründet 27, es liegt aber tatbestandlich nur eine straflose Gebrauchsanmaßung (furtum usus) und eben gerade kein Diebstahl vor, weil es bereits an der Zueignungsabsicht fehlt. Würde die Zueignungsabsicht als subjektives Element erst auf der Schuldebene geprüft, wäre der Unrechtsgehalt einer straflosen Gebrauchsanmaßung und eines strafbaren Diebstahls gleich, was angesichts der bewussten gesetzgeberischen Entscheidung für die Straflosigkeit des furtum usus nicht sein kann.
72Diese berechtigte Kritik am klassischen Verbrechensaufbau wird von der modernen Lehreberücksichtigt, die heute nahezu unbestritten ist. Diese geht davon aus, dass das Unrecht gerade nicht rein objektiv zu betrachten sei, sondern subjektive Merkmale des Täters mit zu berücksichtigen sind. Erreicht wird dies dadurch, dass – jedenfalls beim Vorsatzdelikt – bereits der Tatbestand in einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand aufgespalten wird. Während im objektiven Tatbestandsämtliche objektiv bestimmbaren Elemente der jeweiligen Strafvorschrift zu prüfen sind, folgt dann im subjektiven Tatbestandeine Prüfung des entsprechenden Vorsatzes und sonstiger, bei manchen Delikten zusätzlich geforderter, subjektiver Merkmale (Zueignungsabsicht, Bereicherungsabsicht etc.). 28
Prüfungsschema
I. Tatbestand
1. objektiver Tatbestand
2. subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
73Für den bereits genannten Tatbestand des Diebstahls, § 242 StGB, ergibt sich somit folgendes Prüfungsschema: Im objektiven Tatbestandsind die objektiven Elemente des § 242 StGB zu prüfen: Der Täter muss eine fremde bewegliche Sache wegnehmen. Im subjektiven Tatbestandfolgt eine Prüfung des Vorsatzes, der sich auf alle vier genannten objektiven Tatbestandsmerkmale erstrecken muss. Der Täter muss also wissen, dass er eine Sache wegnimmt, die beweglich und für ihn fremd ist. Eben dies muss er auch wollen. Darüber hinaus muss er, da der gesetzliche Tatbestand eben dies fordert, auch mit Zueignungsabsicht handeln. Diese Zueignungsabsicht 29ist ebenfalls als Element des subjektiven Tatbestandes zu prüfen.
Prüfungsschema
I. Tatbestand
1. objektiver Tatbestand
– Sache, fremd, beweglich, wegnehmen
2. subjektiver Tatbestand
– Vorsatz bzgl. der Elemente Sache, fremd, beweglich, wegnehmen
– Zueignungsabsicht
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
74Erwähnt werden soll an dieser Stelle noch die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen(oder auch: Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand), die in der strafrechtlichen Literatur heute teilweise vertreten wird. 30Sie deckt sich inhaltlich weitgehend mit der modernen Lehre, legt allerdings in Struktur und Aufbau der Straftat ein leicht abgewandeltes System zugrunde. Nach dieser Lehre besteht die Straftat letztlich nur aus zwei Elementen, nämlich dem Tatbestandauf der einen und der Schuldauf der anderen Seite. Der Tatbestand gliedert sich dabei in positive und in negative Tatbestandsmerkmale (hieraus leitet sich auch der Name dieser Lehre ab). Unter den positiven Tatbestandsmerkmalen werden die im gesetzlichen Tatbestand niedergelegten Merkmale verstanden (d. h. die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale im Sinne der modernen Lehre). Dazu treten bereits im Rahmen der Tatbestandsprüfung die „negativen“ Tatbestandsmerkmale, worunter nichts Anderes zu verstehen ist als das Fehlen von Rechtfertigungsgründen. Auch diese müssen dann bereits auf dieser Ebene von einem entsprechenden Vorsatz umfasst sein. Nur wenn die positiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sind und das Fehlen von Rechtfertigungsgründen als negativen Tatbestandsmerkmalen festgestellt ist, ist nach dieser Lehre der Tatbestand und somit gleichzeitig auch das Unrecht erfüllt.
Prüfungsschema
I. Tatbestand (Gesamtunrechtstatbestand)
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