Was er tun musste.
Hektisch zog er sich den langen Mantel aus und riss sich die Stiefel von den Füßen. Es hatte keinen Sinn, alles zu durchnässen. Um keine weitere Zeit zu verschwenden, setzte er sich ans Ende des kleinen Stegs und zischte, als er seine Füße in das eiskalte, aufgewühlte Wasser hielt. Er hatte keine Ahnung, wie tief der See an dieser Stelle war, oder wie lange Joshua schon unter Wasser war. Darius atmete tief ein, stieß sich vom Ende des Stegs ab und sank in die schwarze Tiefe, während er betete, dass er nicht zu spät war.
Joshua
Joshua würde nicht aufgeben. Auf keinen Fall. Er hatte noch so viel vom Leben vor sich. Das war nicht das Ende. Es durfte nicht sein.
Das wäre einfach nicht fair.
Aber das Leben war nicht fair. Egal, wie sehr er in den Tiefen des eiskalten Wassers um sich trat, er fand keinen Halt. Wie tief war dieser See? Wo war die Oberfläche? Es war egal. Seine Kleidung zog ihn nach unten, als wäre sie Steine an seinen Füßen.
Nein! Er konnte nicht einfach aufgeben! Aber seine Lungen und Augen brannten und er spürte, wie ihn die Kraft verließ. Er streckte noch immer die Arme aus, trat um sich und betete, dass ein Wunder geschah.
Er wurde am Handgelenk gepackt.
Entsetzen rauschte durch ihn hindurch und ließ ihn den letzten, kostbaren Atemzug herausschreien. Doch dann wurde er hinausgezogen und sein Kopf drang durch die Wasseroberfläche. Hustend und keuchend schnappte er nach Luft und schlug noch immer um sich, als er versuchte sich aufzurichten.
»Ich hab dich. Ich hab dich.« Die Stimme war rau und tief. Joshua zuckte zusammen, als zwei große Hände seine Schultern packten.
Plötzlich starrte er zu einem triefnassen Darius auf.
»W-wa-?«, stammelte Joshua, während Darius im Wasser trat und ihn noch immer an den Schultern hielt. Verdammte Scheiße, er war so verwirrt und hatte noch nie so gefroren. Die Kälte schien direkt durch seine Knochen zu schneiden. Sein Kopf pulsierte und seine Lungen brannten noch immer, als Darius ihn zu der Stelle zog, an der er gestürzt war. Joshua erkannte nun, dass es ein Steg war und er war davon abgerutscht.
Er war ein Idiot.
Schnell zog sich Darius aus dem eiskalten See und das Wasser lief in Strömen an ihm hinab, als sich Joshua ohne Gefühl in der Hand an den Rand des Stegs klammerte. Dann zog Darius ihn ebenfalls aus dem Wasser.
Joshua war nicht sicher, ob es außerhalb des Wassers besser oder schlimmer war.
»F-f-fuck«, stammelte er und zitterte so heftig, dass er das Gefühl hatte, auseinanderzufallen. Schneeflocken wirbelten um sie herum durch die Luft und der Sturm heulte noch immer wie ein verwundetes Tier. Joshua war sich vage bewusst, dass sich Da-rius von ihm entfernte und seine riesigen Füße in noch größere, trockene Stiefel schob. Dann nahm er einen Mantel, der an einem Ast hing und legte ihn Joshua um die Schultern. Joshua stöhnte, als ihn augenblicklich Erleichterung überkam und er wehrte sich nicht, als Darius ihn an seinen breiten Körper zog und ihm heftig über den Rücken rieb.
»Wir müssen dich sofort zurück nach Thorncliff bringen«, bellte Darius.
Joshua wollte zustimmen, aber seine Zunge schien nicht zu funktionieren. Also dachte er nicht einmal daran zu widersprechen, als Darius ihn wie eine verdammte Puppe hochhob und zwischen den Bäumen hindurchtrug.
Würde er ihn den ganzen Weg nach Hause tragen? Das schien zu viel zu sein. Joshua schlug gegen Darius' Brust und versuchte, ihm zu sagen, dass er ihn runterlassen sollte, weil er selber laufen konnte. Aber plötzlich tauchte da ein Pferd auf. Wo kam es her?
Joshua zog den riesigen Mantel um sich, als Darius ihn hochhob und seitlich auf den Sattel setzte. Dann schob er seinen Fuß in den Steigbügel und zog sich ebenfalls hinauf, ein muskulöses Bein über den Pferderücken schwingend. Er zog Joshua an sich und hielt ihn mit seinem starken Arm fest. Mit der anderen Hand fasste er die Zügel und lenkte das wiehernde Pferd herum. Und dann galoppierten sie durch die Bäume.
Joshua hatte noch nie auf einem Pferd gesessen, geschweige denn seitlich. Es war eine holprige und irgendwie überwältigende Erfahrung. Aber Darius drückte ihn die ganze Zeit über an seine Brust, sodass er sich sicher fühlte.
Der Wind peitschte erbarmungslos um seine Ohren und seine Hände fühlten sich noch immer an, als würden sie Darius' Mantel wohl nie wieder loslassen. Eigentlich fühlten sie überhaupt nichts mehr. Sie waren so taub. Sein Kopf kippte zur Seite, als ihn plötzlich Erschöpfung überkam und schlug gegen Darius' Brust.
»Nein!«, schrie Darius und erschreckte Joshua so heftig, dass er sofort wieder aufwachte. »Bleib bei mir, Joshua. Schlaf nicht ein!«
Joshua wollte nach dem Warum fragen. Schlaf hörte sich nach einer wirklich guten Idee an. Aber dank Darius' Schrei rauschte wieder Adrenalin durch seine Adern und ließ sein Herz rasen. Also nickte er an Darius' Brust, um ihm zu zeigen, dass er ihn verstanden hatte.
Als sie die Baumgrenze durchbrachen, war er beinahe ebenso erleichtert, wie als er endlich wieder aus dem Wasser aufgetaucht war. Schnee und Wind waren hier schlimmer, aber es fühlte sich an, als könnte er wieder atmen. Er keuchte und füllte seine Lungen mit kalter Luft.
Das Schloss war in Sicht.
Erneut versuchte der Schlaf, Joshua zu überwältigen, also fing er an zu zählen und redete sich ein, dass sie den Haupteingang erreichten, bevor er bei hundert angelangt war.
Bei dreiundsiebzig zügelte Darius das Pferd, sodass es sich wiehernd aufbäumte. Ein Mann, den Joshua zuvor noch nicht gesehen hatte, tauchte aus den Ställen hinter dem Esszimmer auf, aus dessen Fenstern Joshua am ersten Abend hinausgesehen hatte.
»Geht es ihm gut?«, fragte der Mann und tätschelte dem Pferd vertrauensvoll die Nase. Er musste in den Ställen arbeiten, was wahrscheinlich der Grund war, warum Joshua ihn bis jetzt nicht gesehen hatte.
Während er über Angenehmes nachdachte, weil sein Kopf zu erschöpft war, um sich mit etwas anderem auseinanderzusetzen, schwang sich Darius vom Pferd. »Schh, Hephaistos«, murmelte er und rieb dem Pferd über die Nüstern, ehe er seine Stirn dagegen legte. »Du warst großartig. Paulo, kümmern Sie sich heute besonders gut um ihn. Er hat viel durchgemacht.« Darius sah zu Joshua auf. »Ich kümmere mich um alles andere. Es ist in Ordnung.«
»Natürlich, Sir«, sagte der Stallbursche, obwohl er nicht wirklich überzeugt aussah, dass alles in Ordnung war und Joshua musste ihm zustimmen.
Er fror jämmerlich.
Mit klappernden Zähnen versuchte er, vom Sattel zu rutschen, doch dann war Darius da, zog ihn wieder in seine Arme und trug ihn über das Gelände ins Schloss. Joshua stöhnte angesichts der plötzlichen Wärme, als sie über die Schwelle traten. Bis zu diesem Moment hätte er Geld darauf verwettet, dass sich das Schloss für immer wie ein Grab anfühlen würde. Seit seiner Ankunft war er jede Nacht mit drei Wärmflaschen ins Bett gegangen. Doch jetzt fühlte es sich angenehm warm und einladend an.
Nach einem Zuhause.
Er klammerte sich an Darius, als sie die Treppe hinauf und durch die hellen Flure rannten. Leuchteten diese Lampen noch immer, nachdem Joshua sie vor Stunden eingeschaltet hatte? Wie lange war das überhaupt her? Wenn man Joshua fragte, könnten es auch Tage sein.
Langsam kehrte seine Wahrnehmung zurück, so weit, dass er erkannte, dass sie auf Darius' Privaträume zusteuerten, in die Joshua nicht hineindurfte. Doch jetzt zögerte Darius nicht, als er durch die verschiedenen Türen ging und Joshua in ein abgedunkeltes Badezimmer brachte. Vorsichtig stellte er ihn wieder auf die Füße und überzeugte sich, dass er allein stehen konnte, bevor er ihn losließ. Dann schaltete er ein paar Lampen ein und öffnete einen Schrank. Er nahm mehrere große Handtücher heraus, die er Joshua hektisch über den voluminösen Mantel über die Schultern legte, ehe er über seine eigene nasse Kleidung rieb und sich ein Handtuch umlegte.
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