Joshua hatte so verängstigt ausgesehen, als er geflohen war. Wahrscheinlich hatte er immer noch Angst. Darius musste ihn finden und die Sache in Ordnung bringen.
Eine Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn an seine gefürchtete, heimliche Anziehung. Aber im Licht seines unverzeihlichen Kontrollverlusts verblasste seine alberne Schwärmerei. Er war sicher, dass seine Gefühle für Joshua in dieser Hinsicht nachlassen würden. Wahrscheinlich hasste Joshua ihn und er hatte jedes Recht dazu. Sicher bestand keine Gefahr, dass er ihm an die Wäsche gehen würde, oder?
Darius konnte sich damit auseinandersetzen, sobald er sich entschuldigt hatte. Seine oberste Priorität war es, Joshua zu finden. Hier gab es viele Orte, an denen man sich verstecken konnte.
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Darius. Er war zerknirscht, aber die Worte klangen wie ein Knurren. Er musste wirklich daran arbeiten, wenn er öfter mit Leuten reden würde. Er war erst seit ein paar Jahren aus der Armee ausgetreten. Wie hatte er sich in einen solchen Neandertaler verwandelt?
Mrs. Weatherby zuckte mit den Schultern und wirkte ein wenig besänftigt. »Nun, er ist nicht in seinen Räumlichkeiten. So viel kann ich Ihnen verraten. Das Licht war aus, als ich nachgesehen habe, ob er etwas zum Abendessen möchte.«
Verdammt. Darius nickte und nagte an seiner Unterlippe, ehe er entschied, Joshuas Brotkrumenspur aus Glühbirnen zu folgen. »Und… danke«, rief er über die Schulter, als er sich an seine Manieren erinnerte, bevor er außer Reichweite war.
»Gern geschehen«, erwiderte Mrs. Weatherby leicht amüsiert.
Darius gelangte an die Seitentür, die zu den ehemaligen Gärten des Schlosses führte, aber noch immer war keine Spur von seinem abgängigen Ehemann zu finden. »Joshua?«, rief er. Neugier brachte ihn dazu, eine der Außentüren zu öffnen. Aber wie erwartet, war das Wetter hässlich. Es wehte ein starker Wind und Schneeflocken flogen durch die Luft. Als Darius das Gesicht verzog, grollte Donner über den Himmel. Er wollte gerade die Tür schließen, als ihm etwas ins Auge fiel.
War das eine Spur?
Es war schwer zu sagen, weil es noch immer schneite, aber Darius war sich beinahe sicher, dass er auf einen blassen Schuhabdruck auf der Steinstufe blickte.
Er warf einen Blick zurück auf die Garderobe. Joshuas abgetragene blaue Jacke hing nicht länger dort, ebenso wenig wie sein Schal.
»Fuck!«, schrie Darius und zog sich bereits seinen langen Mantel an, während er in seine Stiefel schlüpfte. Warum würde Joshua so in die Kälte und Dunkelheit laufen?
Weil Darius ihn wortwörtlich angeschrien hatte, er solle verschwinden.
Bittere Scham wallte in Darius auf, aber er ignorierte sie fürs Erste. Sein oberstes Ziel war es, Joshua zu finden. Wie lange war er schon in diesem Sturm? Der Schnee würde es zumindest einfacher machen, ihm zu folgen.
Darius knallte die Tür hinter sich zu, als er zu den Ställen rannte. Der Stallbursche, Paulo, schien von Darius' plötzlichem Auftauchen verwirrt, half ihm aber sofort, seinen treuen Clydesdale Hephaistos zu satteln.
»Sind Sie sicher, dass Sie bei diesem Wetter raus wollen, Sir?«, fragte Paulo besorgt, als Darius das Pferd zu den Stalltüren führte.
Darius schüttelte grimmig den Kopf. »Ich hab keine Wahl. Dürfte ich Sie bitten, auf unsere Rückkehr zu warten? Heph wird wahrscheinlich frieren.«
Paulo nickte. »Natürlich, Sir«, sagte er mitfühlend. »Viel Glück.«
Paulos empathisches Verhalten, obwohl er nicht wusste, warum Darius in den Sturm ritt, wusste Darius zu schätzen.
»Na komm schon, Heph«, knurrte Darius, als das verdammte Pferd wieherte und schmollte, weil es in den Schnee musste. Darius tippte ihm mit den Fersen gegen die Flanken. »Es ist wichtig, Heph. Bitte.« Heph wieherte laut, wohl um auszusagen, dass er mitmachen würde, weil es offensichtlich ein Notfall war, er sich darüber aber nun wirklich nicht freuen musste.
Innerhalb weniger Minuten galoppierten sie in die Nacht hinaus. Auf diese Weise waren Joshuas Spuren schwieriger zu verfolgen, was bedeutete, dass Darius ein paarmal anhalten musste, um nach Spuren von Schuhabdrücken oder aufgewirbeltem Schnee oder Schlamm zu suchen. Aber sobald sie den Weg eingeschlagen hatten, machte Hephaistos die Reise viel schneller.
Darius' Kehle wurde eng, als sie in den Wald kamen. Joshua war so klein. Er hatte kaum Fleisch auf den Rippen. Er würde die Kälte viel stärker fühlen als Darius. Trug er eine Mütze? Wie viel Körperwärme hatte er bereits verloren?
Während er sich durch den dichten Bewuchs schob, fing Darius verdammt schnell an zu verstehen, wie aufgewühlt er wäre, falls Joshua seinetwegen etwas passierte. Falls ihm überhaupt irgendetwas passierte, aber ganz besonders, wenn es Darius' Schuld war. Er war unschuldig und Victor hatte sie vielleicht in diese Ehe gedrängt, aber es war Darius, der Joshua während eines Schneesturms aus Angst in den Wald getrieben hatte.
Mrs. Weatherby hatte recht. Als er den Streitkräften beigetreten war, hatte Darius die Menschen beschützen wollen und nun war er hier und brachte den Mann in Gefahr, dem er wortwörtlich geschworen hatte, ihn zu lieben und zu ehren.
Er war ziemlich sicher, dass er und Joshua einander nicht lieben konnten. Sie trennten Welten und Joshua verdiente jemanden, der so viel besser war als ein nörgelnder, schlecht gelaunter Tölpel wie Darius. Aber bei Gott, Darius würde dafür sorgen, dass ihm kein Leid geschah, so viel war sicher.
Aber die Angst nagte an ihm. Trotz der Fährte aus matschigen Fußabdrücken und abgebrochenen Zweigen, denen Darius und Hephaistos folgten, war noch immer keine Spur von Joshua selbst zu finden. Darius brüllte erneut seinen Namen und lauschte angestrengt, um über dem heulenden Wind etwas zu hören. Aber da war nichts.
»Nein, nein, nein«, knurrte er vor sich hin und zog an Hephs Zügeln, als sie weiter in den Wald vordrangen. Wohin zur Hölle war Joshua gegangen? Hatte er überhaupt ein Ziel im Sinn gehabt? Vielleicht hatte er gehofft, das Dorf zu finden, aber das lag im Osten und sie bewegten sich weiter Richtung Norden.
Unglücklicherweise verursachten sie zusammen mit dem heulenden Wind selbst eine Menge Lärm, während sie durch das Gebüsch brachen. Als Darius glaubte, in der Ferne einen Schrei zu hören, brachte er Heph nicht schnell genug zum Stehen, um besser lauschen zu können.
Er fluchte unterdrückt und hielt das Pferd ruhig, um auf weitere Geräusche zu achten. Er und Hephaistos atmeten schwer und ihr Atem bildete in der Luft, die bereits von dicken, nassen Schneeflocken erfüllt war, kleine Wölkchen, während der Wind wie ein verwundetes Tier heulte. Darius war nicht sicher, was er hoffte, über all dem zu hören.
Gerade als ihm klar wurde, dass er noch einmal Joshuas Namen rufen sollte, hörte er definitiv ein anderes Geräusch. Aber er brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was für eins es sein könnte.
Ein Platschen?
»Der See!«
Darius schwang sich von Hephaistos. Auf lange Sicht war er zu Pferd vielleicht schneller, aber durch den dichten Bewuchs würde er zu Fuß besser vorankommen und er hatte den Vorteil, mehr hören zu können. Er war beinahe sicher, dass er in die richtige Richtung lief. Es war fast unmöglich, sich in diesem hässlichen Wetter zu orientieren, aber durch eine Lücke in den Wolken hatte er einen Blick auf die Position des Mondes erhaschen können, sodass er ahnte, dass der See zu seiner Linken lag.
»Joshua!«, schrie er, sobald der Steg in Sichtweite kam. Scheiße. Mit Grauen rannte Darius zu den Holzplanken und sah deutlich, wo jemand ausgerutscht war und eine Spur auf dem schleimigen Matsch hinterlassen hatten. Dank des Schneesturms war die Wasseroberfläche voller Bewegung und Wellen, aber da sonst kein Zeichen von Joshua zu sehen war, stellte Darius entsetzt fest, was höchstwahrscheinlich passiert war.
Читать дальше