Mein Zahnarzt ist ein scharfer Beobachter. Er trägt eine randlose Brille mit mindestens sechs Dioptrien beiderseits.
Sonst ist es noch keinem Menschen aufgefallen, daß Herr Brickelmann seit drei Jahren nicht mehr gesprochen hat.
Die Geschichte war in einigen Zeitungen und Zeitschriften erschienen; in der Bundeshauptstadt des Landes, in dem er damals lebte, hatte sie an einem Leseabend, bei dem junge Autoren vorgestellt wurden, ein Burgschauspieler vorgetragen; er selbst hatte die Geschichte bei einer Tagung junger Autoren gelesen; sie war in einer Anthologie von Geschichten junger Autoren abgedruckt worden; und danach hatten ihn noch ein paar Leute einen begabten jungen Autor genannt. Eine Tante, die in der Bundeshauptstadt den Leseabend besuchte, hatte ihm bald danach geschrieben, im Feuilleton einer dortigen Zeitung sei eine Geschichte von einem andern Autor erschienen, die fast Wort für Wort seine Geschichte sei; nur die Namen seien geändert. Er hatte einen zwei Jahre langen Prozeß um das Honorar gegen diesen Autor geführt, der behauptete, er hätte offenbar die Geschichte von ihm abgeschrieben, obwohl seine eigene Geschichte lange vor jener des andern Autors erschienen war; er hatte diesen Prozeß gewonnen, doch dann war der andere Autor, übrigens ein sehr begabter Autor, den er schätzte, völlig mittellos gestorben, und sein Rechtsanwalt hatte ihn gebeten, zugunsten seiner kleinen Tochter auf das Honorar und die Erstattung der Prozeßkosten, die höher als das Honorar waren, zu verzichten, was er getan hatte. Und die Geschichte war in einem Lesebuch für den Deutschunterricht an amerikanischen Colleges veröffentlicht worden, nach dem Gedicht »Liebeslied« von Rilke und mit einem Anhang, in dem den amerikanischen Schülern diese Fragen gestellt wurden: »1. Nennen Sie die Mitglieder der Familie Brickelmann! 2. Wie war die ökonomische Lage der Familie? 3. Wie lebte der Sohn Wilhelm? 4. Warum hatte Herr Brickelmann den Entschluß gefaßt, nicht mehr zu reden? 5. Welche Arbeit tat er im Büro? 6. Wieso konnte er beim Mittagessen im Büro das Sprechen vermeiden? 7. Was ist über Frau Brickelmann zu sagen? 8. Was erzählte der Zahnarzt über Herrn Brickelmann? 9. Was ist der Sinn dieser grotesken Erzählung? Warum spricht Herr Brickelmann nicht? 10. Was ist die Bedeutung des letzten Satzes?«
Als er jetzt, nach so langer Zeit, die Geschichte an einem Nachmittag wieder las, sah er, daß sie von einem Mann handelte, der nach fünfzehn Jahren Ehe zu reden aufhörte, und ihm fiel ein, daß seine eigene Ehe – er hatte ein Jahr, nachdem er die Geschichte schrieb, geheiratet – fünfzehn Jahre gedauert hatte.
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