Es faszinierte ihn immer wieder, welch tiefe Weisheiten oft ganz einfache, unverbildete Menschen aus dem Volke, die nie aus den Kulissen hervor in das Rampenlicht der Literaturgeschichte getreten waren, geprägt hatten – und in welcher Form sie sie kundtaten: in einer Form, die manches, was große Geister geäußert hatten, gekünstelt und erklügelt erscheinen ließ. Doch das hatte nicht erst er entdeckt: Einer aus dem Volke hatte es mit unübertrefflicher Prägnanz in die Worte gefaßt: Volkesmund tut Wahrheit kund .
Wie bewundernswert war, zum Beispiel, die hintergründige und doch eisenharte Sozialkritik des Satzes Für jeden ein Ei und für den braven Schweppermann zwei . Schweppermann, übrigens ein geradezu brechtscher Name, mit ätzender Schärfe als »brav« ironisiert, war natürlich der Kapitalist, der soziale Ausbeuter, der mit rohem Egoismus von allem, so auch von Eiern, immer eins mehr für sich beanspruchte als die andern. Und welche alle Vorsicht in den Wind schlagende, ja lebensgefährliche Entschlossenheit zum Widerstand in einer politisch schlimmen Zeit manifestierte sich in dem Ausruf Ein dreimal Hoch dem Sanitätsgefreiten Neumann; was verband sich darin alles: eine radikale Bloßstellung Hitlers durch den Hinweis, daß er Sanitätsgefreiter gewesen war, bekanntlich in allen Kriegen ein beliebter Druckposten, mit dem zwiefachen Hohn, daß er es, verglichen etwa mit Hindenburg, infolge offensichtlicher geistiger Minderbemitteltheit sowie soldatischer Unfähigkeit und gar Feigheit nur bis zum Gefreiten gebracht hatte – und das alles durch das »Dreimal Hoch« gekleidet in eine scheinbare Preisung und Verherrlichung des gehaßten politischen Gegners, die natürlich genau das Gegenteil meinte.
Von direkt kafkaesker Grausigkeit, fand er, war der Spruch Und in den leeren Fensterhöhlen wohnt das Grauen , vor allem, weil der tragischerweise unbekannt gebliebene Urheber durch die Verbindung der Vokabeln »leer«, »Höhle« und »wohnt« schon damals die Unbehaustheit des Menschen auf Frösteln erregende Weise deutlich machte. Schärfste Sozialkritik wiederum drückte der in seiner Einfachheit so ergreifende Vers aus Ich und du, Müllers Kuh – Müllers Esel, das bist du , der auf den brutalen menschlichen und sozialen Unterschied zwischen dem reichen Müller und dem geknechteten Landarbeiter verweist. In dem Verfasser durfte man einen frühen Vorläufer der modernen Arbeiterdichter sehen, einen Max von der Grün – möglicherweise – der Bauernkriege.
Von Gottfried Benn stammen konnte die Prägung Die Gonokokke lauscht, wenn der Urin vorüber rauscht: Hier verband sich die scheinbare Sachlichkeit eines Mediziners gegenüber den Gefährdungen des sozialen underdog , natürlich eine Maske, die stärkste Verwundbarkeit verdecken sollte, mit radikalstem freudianischem Hinter-die-Dinge-Gucken, denn es wurde unverkennbar auf die Folgen unsublimierter Sexualität hingewiesen, sinnigerweise durch den Einsatz von Fäkalsprache, welche aber dann wieder durch die Verwendung des ungemein lyrischen Reims »lauscht« – »rauscht« gemildert und erträglich gemacht wurde. Und andererseits durfte er in dem Satz wohl eine keck herausfordernde Kritik an C. G. Jung sehen, der ja dazu tendierte, die Erkenntnisse Freuds wieder zu verdrängen oder zumindest für den bürgerlichen usum delphini herzurichten. Bemerkenswert fand er die gefühlsmäßige Zartheit des Verfassers, denn wie unendlich hoffnungsloser hätte sich die Lage für den Gemeinten dargestellt, wenn der Autor statt »Gonokokke« das Wort »Spirochäte« gewählt und damit kaum Freiraum für eine kathartische Wendung gelassen hätte.
Äußerstes lyrisches Feingespür sah er auch in dem Satz Alle Vöglein sind schon da, alle Vöglein, alle . Da wurde zugleich alles offen gelassen und mit unüberbietbarer Klarheit gesagt, denn es war ja doch der Frühling, der mit diesem Jubelruf begrüßt wurde, obwohl – und gerade darin lag die subtile Raffinesse – vom Frühling überhaupt nicht direkt die Rede war, aber fast jedermann wußte natürlich, daß die Zugvögel meistens zur Zeit des Frühlings zurückkehrten. Als sehr eindrucksvoll empfand er überdies die dreimalige Wiederholung des »alle«, ein Tripelreim, der die gewollte – so vieles verhüllende und damit aufreißende – Banalität moderner Lyrik vorwegnahm. Wie plump war dagegen – er erinnerte sich seiner Verpflichtung, auch kritisch zu sein – das alles gleich so platt und unverbrämt heraus sagende Alles neu macht der Mai , das er nie gemocht: dieser Autor war mit Recht in der Versenkung der Literaturgeschichte verschwunden.
Ein ganz großer dichterischer Wurf war jedoch: Finster war’s, der Mond schien helle , als ein Wagen blitzesschnelle langsam um die Ecke fuhr . In hämmerndem, fast unerträglich eindringlichem Rhythmus wurde darin die Einsteinsche Relativitätstheorie selbst dem Stumpfsten und Begriffstutzigsten klargemacht – und gleichzeitig ad absurdum geführt. Und noch dazu erzählte der Verfasser – man durfte ihn wahrlich einen Dichter nennen, und er dachte dabei an Herbert Rosendorfer – in zwei Zeilen eine ganze, den Leser in all ihren Verzweigungen gänzlich gefangennehmende Geschichte; mehr als manch anderem, etwa Manfred Bieler, in einem dickbändigen Roman gelingen konnte. Alles in allem war das Ganze darüber hinaus noch ein exquisites Beispiel schwarzen Humors.
Und geradezu frappant in seiner Kürze, ja genialisch zu nennen fand er das Bonmot, ach was, das Aperçu Man muß den gordischen Knoten mit dem Damoklesschwert zerschlagen , das überhaupt keines Kommentars bedurfte. Der Urheber war ebenfalls ein ganz einfacher, unverbildeter Mann aus dem Volke, den er aber, im Gegensatz zu den andern, sogar persönlich kannte: Es war er selbst.
Er trat eines Morgens auf den Balkon und sah: das Zifferblatt der Uhr am Kirchturm auf der andern Seite der Straße war ohne Zeiger. Entsetzen stieg in ihm auf: Die Uhr ohne Zeiger sagte etwas Grauenhaftes: Die Zeit war stehen geblieben oder es gab keine Zeit mehr auf der Welt, und dann dachte er: Das ist nicht möglich, das muß eine Halluzination sein, und er beschloß, hinunter vors Haus zu gehen und irgendeinen Menschen zu fragen, ob auch er die Uhr ohne Zeiger sah. Doch er verwarf den Gedanken, denn man würde ihn für verrückt halten, und als er weiter auf die Uhr starrte, beruhigte er sich und kam zu dem Schluß, daß die Zeiger abmontiert worden waren, wohl zu einer Reparatur.
Die Uhr blieb ohne Zeiger, Woche um Woche, aber er konnte sich an ihren Anblick und das, was sich für ihn damit verband, nicht gewöhnen. Immer wenn sein Blick auf die Uhr fiel, packte ihn Angst, doch seltsam war, daß die Glocke im Turm hinter der Uhr jede Viertelstunde die Zeit schlug, etwas, das nicht zusammenzupassen schien, und er hörte auch jeden Tag das Mittagund Abendläuten.
Ihm kam der Gedanke: Wenn ich die Zeit überstehe, bis man wieder die Zeiger an die Uhr anbringt, dann werde ich gesund und werde weiterleben, und er schaute jeden Tag mehrmals hinüber zum Kirchturm auf die Uhr, als sei sie ein Omen, das für ihn über Leben oder Tod entschied.
Nach sechs oder sieben Wochen fiel ihm eine Geschichte ein, in der eine Uhr ohne Zeiger vorkam, und er setzte sich am Vormittag an den Schreibtisch und schrieb die Geschichte: die erste, die er nach einer Zeit von fünfundzwanzig Jahren schrieb.
Am Abend wollten ihn Carla und George besuchen, zwei seiner neuen Freunde, und als er am Nachmittag in der Küche das Geschirr abspülte, beschloß er, sie die Geschichte lesen zu lassen und ihnen danach die Uhr ohne Zeiger am Kirchturm auf der andern Seite der Straße zu zeigen.
Dann schaute er aus dem Küchenfenster zum Kirchturm hinüber und sah, daß die Uhr nicht mehr ohne Zeiger war: Man hatte sie wieder am Zifferblatt befestigt.
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