Iwan Turgenev - Aufzeichnungen eines Jägers

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Aufzeichnungen eines Jägers ist eine Sammlung von Erzählungen des russischen Schriftstellers Iwan Turgenev. Die Titelfigur ist ein auf der Jagd herumstreifender adeliger Gutsbesitzer. Aus der Sicht dieses Ich-Erzählers schildert Turgenev das russische Land- und Provinzleben. Er verbindet dabei lyrische Naturschilderungen mit der realistischen Darstellung des russischen Landadels und der leibeigenen Bauern.

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LUNATA

Aufzeichnungen eines Jägers

Aufzeichnungen eines Jägers

© 1852 Iwan Turgenev

Originaltitel Zapiski ochotnika

Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg

Umschlagbild Franklin Carmichael

© Lunata Berlin 2021

Inhalt

Erster Band Erster Band

Chorj und Kalinytsch

Jermolai und die Müllerin

Das Himbeerwasser

Der Kreisarzt

Mein Nachbar Radilow

Der Einhöfer Owsjanikow

Lgow

Die Bjeschin-Wiese

Kassjan aus Krassiwaja-Metsch

Burmistr

Das Kontor

Der Birjuk

Zwei Gutsbesitzer

Lebedjanj

Zweiter Band

Tatjana Borissowna und ihr Neffe

Der Tod

Die Sänger

Pjotr Petrowitsch Karatajew

Das Stelldichein

Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises

Tschertopchanow und Nedopjuskin

Das Ende Tschertopchanows

Die lebendige Reliquie

Es klopft!

Epilog: Wald und Steppe

Erster Band

Chorj und Kalinytsch

Wer einmal Gelegenheit hatte, aus dem Bolchowschen Kreise in den Shisdrinschen zu kommen, dem ist wohl sicher der scharfe Unterschied zwischen dem Menschenschlag im Orjolschen Gouvernement und dem Kalugaschen aufgefallen. Der Orjolsche Bauer ist klein von Wuchs, untersetzt, mürrisch, blickt unfreundlich, lebt in elenden Hütten aus Espenholz, tut den Frondienst, treibt keinen Handel, nährt sich schlecht und trägt Bastschuhe; der Kalugasche Zinsbauer wohnt in geräumigen Häusern aus Fichtenbalken, ist groß gewachsen, blickt verwegen und lustig, hat eine reine und weiße Gesichtsfarbe, handelt mit Öl und Teer und trägt an Feiertagen Stiefel. Das Orjolsche Dorf (wir meinen den östlichen Teil des Orjolschen Gouvernements) liegt gewöhnlich mitten im Ackerland, in der Nähe einer Vertiefung, die man mit den dürftigsten Mitteln in einen schmutzigen Teich verwandelt hat. Außer einigen, stets dienstbereiten Bachweiden und zwei oder drei mageren Birken sieht man auf eine Werst weit keinen einzigen Baum; Hütte klebt an Hütte, die Dächer sind mit faulem Stroh gedeckt … Ein Dorf im Kalugaschen Gouvernement ist hingegen meistens von Wald umgeben; die Hütten stehen freier und gerader da und sind mit Schindeln gedeckt; die Tore schließen fest, die Zäune hinter dem Hofe sind nicht zerstört, fallen nicht nach außen um und laden nicht jedes vorbeigehende Schwein ein … Auch der Jäger hat es im Kalugaschen Gouvernement besser. Im Orjolschen Gouvernement werden die letzten Wälder und Plätze 1in vielleicht fünf Jahren verschwinden, von Sümpfen gibt es aber keine Spur. Im Kalugaschen Gouvernement dagegen ziehen sich die Gehege Hunderte und die Sümpfe Dutzende von Werst hin, und das edle Federwild, das Birkhuhn, ist hier noch nicht ausgerottet; es gibt auch noch gutmütige Doppelschnepfen, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt durch sein plötzliches Aufschwirren den Jäger und den Hund.

Als ich zur Jagd in den Shisdrinschen Kreis kam, lernte ich im Feld einen kleinen Kalugaschen Gutsbesitzer namens Polutykin kennen, einen leidenschaftlichen Jäger und folglich vortrefflichen Menschen. Er hatte allerdings einige Schwächen: Er freite zum Beispiel um alle reichen Bräute des Gouvernements; wenn ihm die Hand und das Haus versagt wurden, vertraute er sein Leid zerknirschten Herzens allen seinen Freunden und Bekannten, fuhr aber fort, den Eltern der Bräute saure Pfirsiche und andere unreife Produkte seines Gartens zum Geschenk zu schicken; er liebte es, immer wieder den gleichen Witz zu erzählen, der, wie hoch ihn Herr Polutykin auch schätzte, keinen Menschen zum Lachen brachte; er lobte die Werke Akim Nachimows und die Erzählung Pinna; er stotterte; er nannte seinen Hund Astronom; sagte statt ›aber‹ – ›allein‹ und hatte in seinem Hause die französische Küche eingeführt, deren Geheimnis nach Auffassung seines Koches darin bestand, daß man den natürlichen Geschmack einer jeden Speise auf das radikalste veränderte: Fleisch schmeckte bei diesem Künstler nach Fisch, Fische nach Pilzen, Makkaroni nach Schießpulver; dafür kam bei ihm keine einzige Mohrrübe in die Suppe, ohne vorher die Gestalt eines Rhombus oder eines Trapezes angenommen zu haben. Aber abgesehen von diesen wenigen und unerheblichen Mängeln war Herr Polutykin, wie schon gesagt, ein vortrefflicher Mensch.

Gleich am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit Herrn Polutykin lud er mich zum Übernachten ein.

»Bis zu mir sind es an die fünf Werst«, fügte er hinzu. »Zu Fuß ist es zu weit; wollen wir zuerst bei Chorj einkehren.« (Der Leser möge mir erlauben, sein Stottern nicht wiederzugeben.)

»Wer ist Chorj?«

»Einer meiner Bauern … Er wohnt ganz nahe von hier …«

Wir begaben uns zu ihm. Mitten im Walde erhob sich auf einer ausgerodeten und gepflügten Lichtung, das einsame Gehöft Chorjs. Es bestand aus einigen aus Fichtenbalken gezimmerten, durch Zäune verbundenen Gebäuden; vor dem Hauptgebäude zog sich ein von dünnen Säulchen gestütztes Schutzdach hin. Wir traten ein. Uns empfing ein junger, etwa zwanzigjähriger, hübscher Bursche.

»Ah, Fedja! Ist Chorj daheim?« fragte ihn Herr Polutykin.

»Nein. Chorj ist in die Stadt gefahren«, antwortete der Bursche lächelnd und seine schneeweißen Zähne zeigend. »Befehlen ein Wägelchen anzuspannen?«

»Ja, Bruder, ein Wägelchen. Und bring uns Kwass.«

Wir traten in die Stube. Kein einziges Susdalsches Bild klebte an den sauberen Balken der Wände; in der Ecke vor dem massiven Heiligenbild mit silbernem Beschlag brannte ein Lämpchen; der Tisch aus Lindenholz war frisch gescheuert und gewaschen; zwischen den Balken und an den Fensterrahmen trieben sich keine flinken Schaben herum und hingen keine nachdenklichen Kakerlaken. Der junge Bursche erschien bald mit einem großen, weißen, mit gutem Kwass gefüllten Krug, mit einer riesengroßen Scheibe Weizenbrot und einem Dutzend Salzgurken in einer hölzernen Schüssel. Er stellte alle diese Produkte auf den Tisch, lehnte sich an die Tür und begann uns lächelnd zu betrachten. Wir waren mit dem Imbiß noch nicht fertig, als vor der Tür schon das Wägelchen polterte. Wir gingen hinaus. Ein etwa fünfzehnjähriger, lockiger und rotbäckiger Junge saß als Kutscher da und hatte Mühe, den satten, scheckigen Hengst zu halten. Um den Wagen herum standen an die sechs junge Riesen, die miteinander und mit Fedja große Ähnlichkeit hatten. »Lauter Kinder Chorjs!« bemerkte Polutykiri.

»Lauter Iltisjungen!« fiel ihm Fedja ins Wort, der uns vors Haus gefolgt war. »Aber es sind noch nicht alle: Potap ist im Wald, und Sidor ist mit dem alten Chorj in die Stadt gefahren … Paß auf, Waßja«, fuhr er fort, sich an den Kutscher wendend. »Fahr schnell, du fährst doch den Herrn. Aber wo der Weg schlecht ist, sollst du langsamer fahren, sonst machst du den Wagen kaputt und bringst auch die Eingeweide des Herrn in Unruhe!«

Die übrigen Iltisjungen lächelten über diesen Witz Fedjas.

»Man setze den Astronomen herein!« rief Herr Polutykin feierlich aus.

Fedja hob nicht ohne Vergnügen den gezwungen lächelnden Hund in die Höhe und setzte ihn auf den Boden des Wagens nieder. Waßja ließ die Zügel locker. Wir rollten davon.

»Das da ist mein Kontor«, sagte mir plötzlich Herr Polutykin, auf ein kleines, niedriges Häuschen weisend, »wollen Sie hineinschauen?«

»Gerne.«

»Es ist jetzt aufgehoben«, bemerkte er, aus dem Wagen steigend, »aber es lohnt sich doch hineinzublicken.«

Das Kontor bestand aus zwei leeren Zimmern. Der Wächter, ein einäugiger Alter, kam vom Hinterhof herbeigelaufen.

»Grüß Gott, Minjajitsch«, versetzte Herr Polutykin. »Wo ist denn das Wasser?«

Der einäugige Alte verschwand und kam sofort mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern wieder.

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