LUNATA
Der Duellant
Der Duellant
© 1846 Iwan Turgenev
Originaltitel Breter
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg
Umschlagbild William-Adolphe Bouguereau
© Lunata Berlin 2021
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Das … sche Kürassierregiment lag im Jahre 1829 im Kirchdorf Kirillowo, im K-schen Gouvernement im Quartier. Dieses Kirchdorf erschien mit seinen Bauernhütten und Getreideschobern, seinen grünen Hanffeldern und dünnen Silberweiden aus der Ferne wie eine Insel im unübersehbaren Meer der gepflügten, schwarzen Äcker. In der Mitte des Dorfes lag ein kleiner, immer mit Gänsegefieder bedeckter Weiher mit schmutzigen, an vielen Stellen aufgewühlten Ufern; hundert Schritte hinter dem Weiher, jenseits der Straße, erhob sich das hölzerne Herrenhaus, das seit langem unbewohnt war und sich traurig auf eine Seite geneigt hatte; hinter dem Haus zog sich der verwilderte Garten hin; im Garten wuchsen alte, unfruchtbare Apfelbäume und hohe Birken voller Krähennester; am Ende der Hauptallee wohnte in einem kleinen Häuschen (der ehemaligen herrschaftlichen Badestube) der altersschwache Haushofmeister, der sich jeden Morgen aus alter Gewohnheit keuchend und hustend durch den Garten in die herrschaftlichen Gemächer schleppte, in denen es nichts zu bewachen gab außer einem Dutzend weißer, mit verschossenem Stoff überzogener Sessel, zwei bauchigen Kommoden auf geschwungenen Füßen mit Messingbeschlägen, vier alten Bildern und einem schwarzen Mohr aus Alabaster mit abgeschlagener Nase. Der Besitzer dieses Hauses, ein sorglos in den Tag lebender junger Mann, wohnte bald in Petersburg und bald im Ausland und hatte sein Gut gänzlich vergessen. Er hatte es vor etwa acht Jahren von einem uralten Onkel geerbt, der einst im ganzen Kreis wegen seiner Fruchtschnäpse berühmt gewesen war. Die leeren dunkelgrünen Flaschen lagen noch immer in den Vorratskammern zusammen mit allerlei Gerümpel, engbeschriebenen Heften in bunten Umschlägen, altertümlichen Glaslüstern, einer alten Adelsuniform aus den Tagen der Kaiserin Katharina, einem verrosteten Degen mit stählernem Korb usw. In einem der Flügel dieses Hauses wohnte nun der Oberst, ein verheirateter, großgewachsener, wortkarger, düsterer und immer verschlafener Mann. Im andern Flügel hatte sich der Regimentsadjutant einquartiert, ein empfindsamer und parfümierter Offizier, großer Liebhaber von Blumen und Schmetterlingen. Die Gesellschaft der Herren Offiziere des … schen Regiments unterschied sich durch nichts von jeder anderen Offiziersgesellschaft. Unter ihnen gab es gute und schlechte, kluge und hohle Menschen …
Ein gewisser Stabs-Rittmeister Awdej Iwanowitsch Lutschkow galt als Kampfhahn. Lutschkow war klein gewachsen und ziemlich unansehnlich; er hatte ein kleines, trockenes Gesicht von gelber Hautfarbe, spärliche schwarze Haare, gewöhnliche Züge und dunkle kleine Augen. Er hatte seine Eltern früh verloren und war in Not und unter schlechter Behandlung aufgewachsen. Wochenlang verhielt er sich ruhig … plötzlich aber begann er, als wäre ein Teufel in ihn gefahren, alle zu belästigen, anzuöden und allen frech in die Augen zu blicken; mit einem Wort – er provozierte Streit. Awdej Iwanowitsch mied übrigens seine Kameraden nicht, war aber nur mit dem parfümierten Adjutanten befreundet. Er spielte keine Karten und trank auch nicht.
Im Mai 1829, kurz vor Beginn der Übungen, kam ins Regiment der junge Kornett Fjodor Fjodorowitsch Kister, ein russischer Edelmann deutscher Abstammung, blond, sehr bescheiden, gebildet und belesen. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr hatte er im Elternhaus unter den Fittichen seiner Mutter, Großmutter und zweier Tanten gelebt; in den Militärdienst war er nur auf Wunsch seiner Großmutter getreten, die selbst im Alter keinen weißen Federbusch ohne Erregung sehen konnte … Er diente ohne besondere Lust, tat aber seine Pflicht eifrig, pünktlich und gewissenhaft; er kleidete sich nicht stutzerhaft, doch sauber und vorschriftsmäßig. Gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft meldete er sich bei den Vorgesetzten; dann machte er sich an die Einrichtung seiner Wohnung. Er hatte billige Tapeten, einige kleine Teppiche, Etageren und so weiter mitgebracht, tapezierte alle Wände und Türen, brachte einige Bretterverschläge an, ließ den Hof reinigen, Stall und Küche umbauen und bestimmte sogar einen eigenen Platz für eine Badewanne … Eine ganze Woche arbeitete er daran; dafür war es später ein Vergnügen, ihn zu besuchen. Vor den Fenstern stand ein sauberer Tisch mit allerlei Sächelchen; in einer Ecke befand sich eine Etagere mit Büchern und den Büsten von Schiller und Goethe; an den Wänden hingen Landkarten, vier Köpfchen nach Grévedon und ein Jagdgewehr; neben dem Tisch erhob sich eine schlanke Reihe langer Pfeifen mit sauber gehaltenen Mundstücken; im Vorzimmer lag ein Fußteppich; alle Türen schlossen; an den Fenstern hingen Gardinen. Im Zimmer Fjodor Fjodorowitschs atmete alles Ordnung und Sauberkeit. Wie anders war es bei seinen Kameraden! Zu manchem kann man nur mit Mühe durch einen schmutzigen Hof gelangen; im Vorzimmer schnarcht hinter einer zerfetzten, mit Sackleinwand überzogenen spanischen Wand der Bursche; auf dem Fußboden liegt faules Stroh; auf dem Herd ein Paar Stiefel und ein Scherben mit Wichse; im Wohnzimmer selbst steht ein mit Kreide beschriebener, defekter L'hombre-Tisch; auf dem Tisch zur Hälfte mit kaltem dunkelbraunem Tee gefüllte Gläser; an der Wand ein schmieriger, durchgedrückter Diwan; auf den Fensterbrettern Pfeifenasche … In einem plumpen Polstersessel thront der Hausherr selbst, mit einem grasgrünen Schlafrock mit himbeerroten Plüschaufschlägen angetan, ein gesticktes Käppchen asiatischer Herkunft auf dem Kopfe; neben dem Hausherrn schnarcht abscheulich ein dicker, ganz unbrauchbarer Köter mit stinkendem Messinghalsband …
Alle Türen stehen immer weit offen …
Fjodor Fjodorowitsch gefiel seinen neuen Kameraden. Sie hatten ihn wegen seiner Gutmütigkeit, Bescheidenheit, Herzenswärme und herzlichen Neigung für »alles Schöne« liebgewonnen, mit einem Worte für Eigenschaften, die sie bei einem andern Menschen vielleicht als unpassend empfunden hätten. Man nannte Kister »junges Mädchen« und behandelte ihn zärtlich und sanft. Nur Awdej Iwanowitsch allein sah ihn scheel an. Eines Tages nach dem Exerzieren ging Lutschkow mit leicht zusammengepreßten Lippen und geblähten Nüstern auf ihn zu.
»Guten Tag, Herr Knaster!«
Kister sah ihn erstaunt an.
»Meine Hochachtung, Herr Knaster!« wiederholte Lutschkow.
»Ich heiße Kister, mein Herr.«
»So, Herr Knaster?!«
Fjodor Fjodorowitsch wandte ihm den Rücken zu und ging nach Hause. Lutschkow blickte ihm mit spöttischem Lächeln nach.
Am nächsten Tag ging er gleich nach dem Exerzieren wieder auf Kister zu.
»Nun, wie geht es, Herr Kinderbalsam?«
Kister fuhr auf und blickte ihm gerade ins Gesicht. In den kleinen, galligen Augen Awdej Iwanowitschs leuchtete boshafte Freude.
»Ich meine Sie, Herr Kinderbalsam!«
»Mein Herr«, antwortete ihm Fjodor Fjodorowitsch, »ich finde Ihren Scherz dumm und deplatziert – hören Sie es? –, dumm und deplatziert.«
»Wann schlagen wir uns?« entgegnete Lutschkow ruhig.
»Wann Sie wollen, von mir aus morgen.«
Am andern Morgen schlugen sie sich. Lutschkow brachte Kister eine leichte Verwundung bei, ging darauf, zum größten Erstaunen der Sekundanten, auf den Verwundeten zu, drückte ihm die Hand und bat ihn um Verzeihung.
Kister mußte zwei Wochen zu Hause sitzen; Awdej Iwanowitsch besuchte ihn einige Mal und freundete sich, als Fjodor Fjodorowitsch genesen war, mit ihm an.
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