Iwan Turgenev - Klara Militsch

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Der sehr zurückgezogen lebende Jakow Aratow und die Sängerin Klara Militsch verlieben sich ineinander. Doch er will sich seine Liebe nicht eingestehen und weist sie zurück. Monate später liest er in einer älteren Zeitungsausgabe, dass die Sängerin durch die Einnahme von Gift aus dem Leben schied. Als Grund für den Suizid nennt der Zeitungsartikel Gerüchte über eine unerwiderte Liebe. Erst jetzt wird Aratow bewusst, wie sehr er in Klara verliebt war und er macht sich schwere Vorwürfe, sie seinerzeit zurückgewiesen zu haben.

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LUNATA

Klara Militsch

Klara Militsch

Macht der Liebe

© 1882 Iwan Turgenev

Originaltitel Klara Milič

Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg

Umschlagbild Giovanni Boldini

© Lunata Berlin 2021

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

Im Frühjahr 1878 lebte zu Moskau in einem kleinen hölzernen Häuschen in der Schabolowka-Vorstadt ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, namens Jakow Aratow. Mit ihm wohnte seine Tante, Platonida Iwanowna, die Schwester seines Vaters, eine alte Jungfer von einigen und fünfzig Jahren. Sie besorgte den Haushalt und verwaltete seine Kasse, wozu Aratow selbst nicht das geringste Talent besaß. Andere Verwandte hatte er nicht. Sein Vater, ein nicht sonderlich reicher Edelmann aus dem T-schen Gouvernement, war vor einigen Jahren mit ihm und mit Platonida Iwanowna, die er übrigens immer Platoscha nannte, nach Moskau übersiedelt; auch der Neffe nannte sie nicht anders. Der alte Aratow hatte sein Gut, auf dem er bis dahin ständig gelebt hatte, verlassen, um seinen Sohn, dem er den ersten Unterricht selbst erteilt hatte, in die Moskauer Universität zu geben. Er kaufte sich halb umsonst ein Häuschen in einer der entlegeneren Straßen und richtete sich darin mit allen seinen Büchern und »Präparaten« ein. Von denen hatte er aber eine ganze Menge, denn er war ein Mann, dem die Gelehrsamkeit nicht fremd war, oder ein »geborener Kauz«, wie sich die Nachbarn ausdrückten. Sie hielten ihn sogar für einen Zauberer und nannten ihn scherzweise »Insektenbeobachter«. Er befaßte sich mit Chemie, Mineralogie, Entomologie, Botanik und Medizin und behandelte freiwillige Patienten mit Kräutern und Metallpulvern eigener Erfindung nach der Methode des Paracelsus. Mit diesen selben Pulvern hatte er seine hübsche, junge, aber gar zu schmächtige Frau, die er leidenschaftlich liebte und von der er den einzigen Sohn hatte, ins Grab gebracht. Mit den gleichen Metallpulvern ruinierte er auch die Gesundheit des Sohnes, während seine Absicht war, sie zu kräftigen, da er in Jakows Organismus eine von der Mutter ererbte Anämie und Neigung zu Schwindsucht gefunden zu haben glaubte. Den Spitznamen »Zauberer« verdankte er unter anderm auch dem Umstande, daß er sich für einen Urenkel – natürlich nicht in gerader Linie – des berühmten Bruce ausgab, dem zu Ehren er seinen Sohn Jakow getauft hatte. Er war, was man so nennt, eine Seele von einem Menschen, hatte aber ein melancholisches, schüchternes und schwerfälliges Temperament und eine Neigung für alles Geheimnisvolle und Mystische. Ein geflüstertes »Ah!« war seine gewöhnliche Interjektion; mit diesem »Ah!« auf den Lippen gab er auch, zwei Jahre nach seiner Übersiedlung nach Moskau, den Geist auf.

Sein Sohn Jakow hatte keine Ähnlichkeit mit dem Vater, der unschön, plump und ungelenk gewesen war; er erinnerte eher an die Mutter. Er hatte ihre feinen, anmutigen Züge, ihre weichen, aschgrauen Haare, die gleiche geschwungene Nase, die gleichen vollen kindlichen Lippen und großen grünlichgrauen, etwas verschleierten Augen unter dichten Wimpern. Im Charakter glich er dafür mehr dem Vater; und sein Gesicht, das dem des Vaters sonst unähnlich war, zeigte doch dessen Ausdruck. Er hatte auch die knotigen Arme und die eingefallene Brust des alten Aratows, den man übrigens kaum alt nennen darf, da er, als er starb, noch nicht Fünfzig war. Jakow war noch bei Lebzeiten des Vaters auf die Universität, und zwar auf die physikalisch-mathematische Fakultät, gekommen, aber noch vor Abschluß des Studiums wieder ausgetreten: nicht etwa aus Faulheit, sondern weil er der Ansicht war, daß man zu Hause ebenso viel lernen könne wie auf der Universität; ein Diplom brauchte er nicht, da er nicht die Absicht hatte, die Beamtenkarriere einzuschlagen. Er hielt sich von seinen Kollegen fern, machte fast keine Bekanntschaften, ging allen Menschen, besonders aber den Frauen, aus dem Wege und lebte sehr zurückgezogen, fast immer in seine Bücher vertieft. Er hatte eine Scheu vor den Frauen, obwohl sein Herz empfindsam war und sich leicht für alles Schöne begeisterte. Er schaffte sich sogar ein teures englisches Bilderwerk an und weidete sich (o diese Schande!) am Anblick der darin dargestellten weiblichen Schönheiten … Von allen anderen Schritten hielt ihn aber seine angeborene Schamhaftigkeit zurück. Er bewohnte das große Arbeitszimmer seines Vaters, das ihm zugleich auch als Schlafzimmer diente; er schlief auch in demselben Bett, in dem sein Vater gestorben war.

Die wichtigste Stütze seines ganzen Seins, sein unersetzlicher Genosse und Freund war seine Tante, jene selbe Platoscha, mit der er kaum mehr als zehn Worte am Tag wechselte, ohne die er aber keinen Schritt tun konnte. Sie war ein Geschöpf mit langen Zähnen und farblosen Augen im langen, blassen Gesicht, das immer den gleichen halb traurigen, halb erschrockenen Ausdruck bewahrte. Immer mit einem grauen Kleid und einem grauen Schal, der nach Kampfer roch, angetan, schlich sie mit unhörbaren Schlitten wie ein Schatten durch das Haus, seufzte, flüsterte Gebete – mit besonderer Vorliebe eines, das nur aus zwei Worten bestand: »Gott hilf!« – und führte mit außerordentlicher Tüchtigkeit die Wirtschaft, sparte, wo sie nur konnte, und besorgte selbst alle Einkäufe. Ihren Neffen vergötterte sie. Sie war stets nur um seine Gesundheit besorgt und sah überall Gefahren für ihn; und wenn ihr auch nur das Geringste vorkam, schlich sie leise in sein Zimmer, stellte vor ihn auf den Schreibtisch eine Tasse Brusttee oder streichelte ihm mit ihren Händen, die so weich wie Watte waren, den Rücken. Jakow empfand diese ewige Besorgtheit um sein Wohlergehen gar nicht als Last, den Brusttee trank er aber nicht und nickte nur anerkennend mit dem Kopfe. Er konnte sich übrigens wirklich keiner besonders kräftigen Konstitution rühmen. Er war leicht erregbar, nervös, hypochondrisch und litt an Herzklopfen, zuweilen auch an Atemnot. Gleich seinem Vater glaubte er daran, daß es in der Natur und in der Menschenseele Geheimnisse gebe, die man zuweilen ahnen, doch niemals ergründen könne. Er glaubte an die Existenz gewisser manchmal wohltätiger, meistens aber feindseliger Kräfte und Strömungen; glaubte auch an die Wissenschaft, an ihre Würde und Bedeutung. In der letzten Zeit befaßte er sich leidenschaftlich mit Photographie. Der Geruch der dabei verwendeten Chemikalien erfüllte die alte Tante mit großer Sorge; diese Sorge galt aber nicht ihr selbst, sondern nur Jascha und seiner schwachen Brust. So mild sein Charakter war, so konnte er zuweilen auch recht eigensinnig sein. Mit solchem Eigensinn setzte er auch die Beschäftigung, an der er soviel Gefallen gefunden, fort. Platoscha fügte sich dem, seufzte aber noch mehr als früher und flüsterte immer öfter das Gebet: »Gott hilf!«, wenn sie seine mit Jod gefärbten Finger sah.

Jakow hielt sich, wie gesagt, von allen Kollegen abseits; einem von ihnen aber schloß er sich recht eng an und setzte den Verkehr mit ihm sogar dann fort, als der bereits die Universität verlassen und eine Stellung, die ihm übrigens wenig Verpflichtungen auferlegte, angenommen hatte: Er »klebte«, wie er sich selbst ausdrückte, am Bau der Moskauer Erlöserkathedrale, ohne natürlich auch das geringste von Architektur zu verstehen. Es war sehr seltsam: Dieser einzige Freund Aratows, namens Kupfer, ein Deutscher, der aber so sehr verrußt war, daß er keinen Ton Deutsch verstand und sogar das Wort »Deutscher« als Schimpfwort gebrauchte – dieser Freund schien mit Aratow nicht das geringste gemein zu haben.

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