Helmut Lauschke
Operative Medizin und Verantwortung
Dialektik eines Chirurgen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Operative Medizin und Verantwortung Dialektik eines Chirurgen Dieses ebook wurde erstellt bei
Gedanken der Einführung
Fortschritt im Menschen als Persönlichkeit
Wahrheit und Verantwortlichkeit
Alltag des tätigen Arztseins
Die Geraden der Motivation
Das Mädchen Kristofina, das vom Blitzschlag getroffen wurde
Notfallentbindung durch Kaiserschnitt und Grenzüberquerung auf Eselskarren mit schwerer Bauchverletzung
Die klimatischen Bedingungen bei der Arbeit
Der Mann mit dem fortgeschrittenen Magenkarzinom
Kurz nach Mitternacht
Das Mädchen mit dem Knochensarkom des Armes
Die Schattengesichter der nächtlichen Razzien
Von der chirurgischen Bürde
Die Bedeutung des Fußes für die Bewegungsfreiheit in der Wüste
Vom Abtrennen von Gliedmaßen
Militärische Order setzt medizinisches Argument außer Kraft
Der Mann, dem das rechte Bein davonflog
Aus dem Brief eines Kollegen und Freundes
Impressum neobooks
Dialektik eines Chirurgen
WAS IST ZEIT? WENN MICH NIEMAND DANACH FRAGT, WEISS ICH ES. WENN ICH ES EINEM ERKLÄREN WILL, DER DANACH FRAGT, WEISS ICH ES NICHT. AURELIUS AUGUSTINUS von Hippo (354-430), CONFESSIONES, LIBER XI, CAPUT XIV
Die Philosophie der Jetztzeit ist das Rätselraten nach dem Wesen der Dinge in ihrer Wahrheit aus dem Stand der Unvollkommenheit des Wissens und der ständig kompromittierten Tugend des Wissenwollens. Denn anders und in der Vollkommenheit hätten wir den Zustand des Wissens erreicht. Aber es ist gerade die Unvollkommenheit, die den permanenten Anstoß zum philosophischen Denken gibt, warum das mit dem Wissen um die Wahrheit der Dinge und um sie herum so problematisch ist.
Die Philosophie beschäftigt sich mit den Dingen der Gegenwart. Da alle Dinge in die Vergangenheit gleiten und die Dinge der Zukunft nicht sichtbar und vorhersehbar sind, ist es die Bewegung im Ablauf der Zeit, die die Veränderungen der Dinge bewirkt, dass die Wahrheit eines Dinges für den Augenblick gelten mag, aber auf Dauer in die Gegenwart der Zukunft aufgrund der permanenten Veränderung und Veränderbarkeit nicht festzulegen ist.
Die Permanenz der Veränderung der Welt und der Dinge in ihr (im permanenten Umbruch) macht es unmöglich, die Wahrheit des Dinges über einen längeren Zeitraum zu finden, zu verfolgen und zu definieren.
Die Philosophie beinhaltet auch die Wissenschaft des Willens, was ein recht unstetes ‘Organ’ (das Organ des Wankens) ist, dass auf den Gedankengeraden und ihren ‘Zufahrtswegen’ vorhersehbar, aber meist unvorhergesehen, Kurzschlüsse, Unterbrechungen und Abbrüche im Denkprozess stattfinden, was auf dem Wege der Erkennung und Erkenntnis der Wahrheit hinderlich und Ursache dafür ist, dass der Denkprozess vorzeitig abbricht.
Das Unstete im Denken und im Willen zum Denken widerspricht der absoluten Denkgeraden in der Mathematik, was der Philosophie den Glanz und die Sauberkeit der Makellosigkeit gibt. Frei von irrationalen Stolpersteinen hebt die Mathematik den Charakter der Philosophie auf die Höhe der Erhabenheit über all das Kleine mit den Fehlern im Denken und Handeln.
Zum Wahrheitsbegriff:Im Lösungsversuch nimmt Augustinus René Descartes’ cogito ergo sum vorweg, indem er die Unzweifelhaftigkeit der Existenz des Denkenden (Zweifelnden) feststellt: „Wird jemand darüber zweifeln, dass er lebt, sich erinnert, Einsichten hat, will, denkt, weiß und urteilt? […] Mag einer auch sonst zweifeln, über was er will, über diese Zweifel selbst kann er nicht zweifeln.“ – De TrinitateX, 10
Augustinus fasst es zusammen mit „ si enim fallor, sum“ : „Denn (selbst) wenn ich irre , so bin ich (doch).“ Als Vorbild dienen ihm die idealen Wahrheiten der Mathematik, da die Sinneswahrnehmungen wegen ihrer Unzuverlässigkeit und der Wandelbarkeit der äußeren Welt diese Eigenschaften nicht aufweisen. Da kommt der Satz von Pythagoras in Erinnerung: Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.
Augustinus sucht die Wahrheit im menschlichen Geist: „Suche nicht draußen! Kehre in dich selbst zurück!Im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit. […] Der Verstand schafft die Wahrheit nicht, sondern findet sie vor.“ – De vera religione39, 72f.
Der Grund aller Wahrheit sind die ewigen Ideen (und der Atem, sie zu entdecken), die nach Augustinus in Gottes Geist existieren. Wie bei Platonhaben auch bei Augustinus die Urbilderden ontologischhöchsten Status; sie sind die Wesensgründe aller Dinge. Verfügbar wird die Wahrheit für den Menschen in der vermittelten Erleuchtung des Geistes durch Gott (Illuminations- bzw. Irradiationstheorie.
Galilei (1564-1642): Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Florenz (1632). Der göttliche Geist (mundus intelligibilis) „strahlt“ diese Ideen und Regeln direkt in den menschlichen Geist „ein“, da der menschliche Geist anders als sein materieller Körper als Gottes Ebenbild (imago dei) geschaffen ist. Die Wahrheit findet sich nicht außerhalb des Menschen, sondern im Menschen selbst.
Zeitauffassung:Augustinus spricht über die drei Zeiten: Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als solche existieren nach Augustinus nicht:
„Wie kann man sagen, dass [die vergangenen und zukünftigen Zeiten] sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwärtige Zeit aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.“
Vielmehr ist die Vergangenheit eine Erinnerung in der Gegenwart, und die Zukunft eine Erwartung in der Gegenwart, während die Gegenwart selbst, ein aus der Zukunft in die Vergangenheit an unserem Geiste vorüberziehender Moment ist. Wir messen die Zeit anhand eines Eindrucks.
Der Eindruck, den die vorübergehenden Dinge [in unserem Geiste] hervorbringen und der bleibt, wenn sie vorübergegangen sind, ihn, den gegenwärtigen, [messen wir], nicht was vorübergegangen ist und ihn hervorgebracht hat.
Als eine neuzeitliche Ableitung:Die Zeit als solche ist durch den Verstand nicht fassbar, auch wenn wir in und mit ihr leben und sterben. Es mag die Atmung sein, die mit dem Atemzug an die Zeit erinnert und im Ausatmen an die Zeit ‘klopft’ beziehungsweise im perkutierenden ‘Abklopfen’ der Organe fürs Leben in die Zeit hinein drängt und eindringt, dass der Mensch im Atmen den Eindruck von der Zeit bekommt und umgekehrt er seinen Eindruck in die Zeit hinein gibt. Das Eindrücken ist die Wechselfunktion in der Gegenseitigkeit des engsten permanenten Miteinanders.
Die Zeit wird als Weltenhalle vorstellbar, durch die der Mensch sein Leben trägt und abfährt.
Das augustinische Zeitverständnisenthält damit die subjektive Komponente der Zeit, da wir die abgelaufene Zeit als Eindruck in Erinnerung behalten, wir also in uns verschiedene erlebte Zeiträume miteinander vergleichen und dadurch zu subjektiven Aussagen gelangen. So kam zum Beispiel eine Zeit länger vor als eine andere. Zukünftige Dinge können wir nicht messen, da wir nichts über sie wissen und aussagen können. Erst wenn sie an uns vorüberziehen und wir durch sie einen Eindruck gewonnen haben, können wir für uns entscheiden, ob der Eindruck länger oder kürzer war.
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