Ihre Wohnung erwies sich als ein Einzimmerappartement, in dessen Wohn- und Schlafzimmer sie beiderseits eines kleinen Glastisches in tiefen grünen Fauteuils Platz nahmen, er mit einem etwas unbehaglichen Gefühl, denn an der Wand gegenüber stand, mit provokanter Direktheit, ein riesiges rosa Baldachinbett, zwischen dessen zugezogenen Vorhängen blümchenverzierte Bettwäsche hervorlugte, und er mußte während ihres wieder zweistündigen Gesprächs, wie magisch angezogen, ständig den Kopf zu dem Bett wenden, was, wie er fürchtete, von ihr nicht unbemerkt bleiben konnte. Es geschah jedoch nichts, was ihn mit ihr quer durchs Zimmer in die Richtung dieses Bettes zog, besser gesagt, er ließ mit sich nichts dergleichen geschehen, aber als er sich nach zwei Stunden in der Wohnungstür von ihr verabschiedete, entsann er sich nun doch seiner mehr männlichen als literarischen Neigungen, senkte seinen Kopf zu ihr hinab und drückte einen Kuß auf ihre Lippen, die geschlossen blieben, den Kuß aber auf ganz zarte hauchhafte Weise erwiderten. Dann ging er, ohne ein weiteres Wort.
Der Kuß und der leicht bittere Geschmack ihres Lippenstifts hinterließen in ihm ein nagendes Verlangen, sich mehr und Deftigeres von ihrem Mund zu holen, doch als er sie bei seinem nächsten Besuch gleich an sich zu ziehen versuchte, machte sie sich lächelnd und kopfschüttelnd von ihm los, und sie ließen sich wieder in den grünen Fauteuils nieder, zwischen denen, mit unüberwindlicher Konkretheit, der Glastisch stand. Ähnliches wiederholte sich bei seinen zwei oder drei nächsten Besuchen, und ihre ständige Verweigerung ließ in ihm immer mehr einen quälenden Drang wachsen, mit ihr von den grünen, durch den Glastisch getrennten Fauteuils auf das so einladend lustvolle Vereinigung verheißende rosa Baldachinbett überzusiedeln. Als seine wiederholten Versuche, dies zu tun, nichts fruchteten und es bei hauchhaften, von ihr stets gleich wieder abgebrochenen Küssen blieb, entsann er sich eines erprobten Mittels, das bei einigen andern Mädchen überraschende, ganz in seinem Sinn liegende Wirkung gezeitigt hatte. Er hatte im Lauf der letzten Jahre einige Gedichte geschrieben; Gedichte, in denen die Rede war von verwelkten Astern, nächtlich leeren Straßen, zersprungenen Kristallschalen und weiß verschneiten Winterwäldern. Er hatte die Gedichte – nachdem er Ähnliches bei Hesse gelesen hatte – ziemlich kühl und überlegt und meistens bereits in der Absicht geschrieben, irgendeinem Mädchen zu imponieren und in ihm seinen frevelhaften Absichten entgegenkommende Gefühle zu erzeugen, was ihm, wie gesagt, in einigen Fällen mit ihn selbst erstaunendem Erfolg gelungen war. Ein paarmal hatte er sogar, wenn ihm selbst nichts einfiel, Gedichte anderer Dichter, die ihm gefielen, abgeschrieben, Texte, die er mit Bedacht wählen mußte, denn die Gedichte und die Dichter durften natürlich nicht zu bekannt sein, damit er sich keine unsterbliche Blamage einhandelte; und er hatte diese abgeschriebenen Gedichte, welche sich, wie er feststellte, zuweilen als ebenso wirksam wenn nicht wirksamer erwiesen, den Mädchen gegenüber als seine eigenen Werke ausgegeben – etwas, dessen er sich in späteren Jahren, wenn er daran dachte, zutiefst schämte; vor allem, wenn ihm einfiel, daß er einmal Christine Lavant, nicht nur eine Dichterin, sondern auch eine Frau, und überdies eine schon ältere, mißbraucht hatte, um sich bei einem Mädchen eine erotisch sehr erlebnisreiche Nacht zu verschaffen; ein geradezu ungeheuerlich obszönes Vergehen.
Er brachte also zu seinem nächsten Besuch einige seiner Gedichte mit; durchwegs eigene, denn von andern Dichtern abgeschriebene traute er sich Gerda bei ihren erstaunlichen Literaturkenntnissen nicht zu präsentieren; und las sie ihr vor, nachdem sie zu beiden Seiten des Glastischs in den grünen Fauteuils Platz genommen hatten, mit bedeutungsvoll gesenkter Stimme, eins nach dem andern, und als er alle vorgetragen hatte, ließ er seine Augen über das gegenüberstehende Baldachinbett gleiten und sah sie erwartungsvoll an. Sie saß mit gesenktem Kopf, hob dann den Kopf, schaute ihn mit einem fast flehentlichen Blick an und senkte ihn wieder und schwieg. Nachdem er eine Weile gewartet und innerlich ein wenig verdaut hatte, daß sie nicht aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen war, raffte er sich zusammen und fragte mit belegter Stimme, was sie zu den Gedichten meine. Sie hob wieder den Kopf, und diesmal glaubte er Mitleid in ihrem Blick zu sehen, und dann sagte sie leise, sie müsse, wenn sie ganz ehrlich sei, und er solle ihr aber nicht böse sein und ihre Offenheit verzeihen, aber wenn sie ganz ehrlich sei, müsse sie sagen, sie finde die Gedichte schlecht. Er ging, diesmal ohne Kuß, mit einem Gefühl tiefer Verzweiflung und schlief die Nacht danach nicht.
In den Tagen und Nächten vor seinem nächsten Besuch gelangte er endlos grübelnd zur Überzeugung, daß nun nichts anderes blieb als die auch schon einige Male von ihm angewandte Methode unverhüllter Überrumpelung, und so versuchte er bei seinem nächsten Besuch gleich, nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, ohne ein Wort und ohne sich erst in einen der Fauteuils niederzulassen, sie in Richtung des riesigen rosa Baldachinbettes mit der geblümten Bettwäsche zu drängen, doch sie stieß ihn, als er ihr Sträuben nicht beachtete und nicht nachgab, schließlich mit einer wütenden Heftigkeit, die einen Moment sein Herz aussetzen ließ, zurück. Dann sank sie in den einen Fauteuil, schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Sein Herz schmolz; er beugte sich über sie und versuchte, voll Reue über seine unfaßbare Gefühllosigkeit, sie zu beruhigen, wobei er mit der Hand über ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar strich, wovon er jedoch bald abließ, denn die Berührung ließ – und er begann sich selbst zu hassen – neuerliche Begierde in ihm aufsteigen. Endlich nahm sie die Hände vom Gesicht, hob den Kopf, wischte mit einem bestickten kleinen Taschentuch die Tränen ab und deutete auf den Fauteuil auf der andern Seite des Glastischs. Er setzte sich, und nachdem sie ihn einen Moment angesehen hatte, mit einem herzzerreißend traurigen Blick, begann sie stockend und mit leiser Stimme zu erzählen: Sie habe seit drei Jahren eine Beziehung zu einem viele Jahre älteren, in der Öffentlichkeit sehr bekannten Mann mit einer hohen Position in der siebzig Kilometer entfernten Festspielstadt, der verheiratet sei und zwei Töchter in ihrem Alter habe; sie könne ihn nur alle paar Monate über ein Wochenende sehen, das sie immer in einem Hotel im nahen Gebirge verbrächten, doch ihre Gefühle für ihn seien so, daß sie nicht von ihm loskäme und ließen keine Beziehung zu einem andern Mann zu; sie habe sich, trotz aller Ausweglosigkeit, damit abgefunden. Dann bat sie ihn, der mit starrer Fassungslosigkeit zugehört hatte, zu gehen; er solle aber nächste Woche wiederkommen, sie könnten doch Freunde sein; und er ging, schwankend und benommen.
Ihre Geschichte beschäftigte ihn die nächsten Tage unausgesetzt, und als er eine Woche später einen Tag in der Bundeshauptstadt zu tun hatte, beschloß er – schon damals – einen Psychotherapeuten aufzusuchen und sich Rat zu holen. Der Psychotherapeut sah ihn, während er den Fall vortrug, von der andern Seite seines Schreibtischs her durch seine Brille auf, wie ihm schien, unangenehm bohrende Weise an, und als er fertig war und ihn um seine Meinung bat, sagte er, was ihm vor allem auffalle, sei seine erstaunliche Unfähigkeit, sich zu konzentrieren. Und als er darauf beharrte, seine Ansicht zu hören, und ihn fragte, ob das Mädchen nicht einen Ödipuskomplex habe und was er dagegen tun solle, erwiderte der Psychotherapeut, ein Ödipuskomplex sei es bei dem Mädchen sicherlich nicht, aber vielleicht ein Elektrakomplex, doch er habe den Eindruck, nicht das Mädchen sei einer psychotherapeutischen Behandlung bedürftig, sondern er selbst. Er ging, nachdem er ein ungeheuerliches Honorar entrichtet hatte, in kalter Wut: Er dachte nicht daran, sich in eine solche Behandlung zu begeben, und das war auch nicht möglich, denn er konnte nicht dazu jedes Mal in die Bundeshauptstadt fahren und hatte auch gar nicht das nötige Geld dafür, aber andererseits konnte er bei Gerda und deren Neigung für viel ältere Männer nicht warten, bis er sechzig war, und das war auch keine Lösung, denn dann würde sie vierundsechzig oder fünfundsechzig sein und sich vielleicht zu Männern hingezogen fühlen, die über hundert waren.
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