Er wußte nicht ein noch aus, doch in den Tagen bis zu seinem nächsten Besuch wurde ihm zunehmend bewußt, teils zu seinem Schrecken und teils zu seiner Erleichterung, daß er allmählich die Lust an der ganzen Sache verlor, und er hatte inzwischen auch von ihr erfahren, daß sie sehr stark kurzsichtig war, und ihr seelenvoller, leicht verschleierter Blick war, wie er annehmen mußte, eine Folge davon. Er beschloß jedoch, einen letzten Versuch zu unternehmen und nahm, halben Herzens, Rilkes Cornet mit, um ihn ihr vorzulesen; durchaus nicht, um Gottes willen, in der Absicht, ihn als sein eigenes Werk auszugeben, doch in der schon so oft bestätigten Annahme, daß Schönes und Bedeutendes, das aus seinem Mund kam, seine Wirkung nicht verfehlen würde, auch wenn es nicht von ihm selber war. Immer noch halben Herzens, las er ihr, skandierend und in eindringlichem Rhythmus, den Cornet vor, und als er geendet hatte, schwiegen sie beide eine Minute, und dann sprang sie aus ihrem grünen Fauteuil auf und lief um den Glastisch herum zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und sah ihn mit graugrünen Augen und halb offenen Lippen erwartungsvoll an, und er spürte ihre festen Brüste an seiner Brust, und sein halbes Herz darin wuchs wieder zu einem ganzen wild pochenden Herzen, und noch etwas anderes wuchs an ihm, und dann sagte sie, das sei eine Sternstunde gewesen, und da schrumpfte sein Herz ganz schnell wieder zusammen und ihm fiel innerlich und auch äußerlich alles herunter, denn Sternstunde war ein einfach unfaßbar und unsäglich kitschiges Wort, das ihm einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Er räusperte sich, machte sich los und ging mit einer schnell ausgedachten Entschuldigung und sah sie nicht wieder; und Rilkes Cornet war ihm von da an verleidet.
Mit Anfang zwanzig, vor fünfundzwanzig Jahren, als einige Leute, die etwas davon verstanden, ihn einen vielversprechenden jungen Autor nannten, hatte er diese Geschichte geschrieben:
Herr Brickelmann redet nicht mehr
Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wann Herr Brickelmann mit dem Sprechen aufhörte; zumindest die genaue Stunde und der eigentliche Anlaß sind nicht bekannt, und wenn Herr Brickelmann sich nicht doch eines Tages wieder entschließt zu reden, so sieht es ganz danach aus, als würden wir es nie erfahren.
Eines Tages geschah es, ganz ohne Vorbereitung. Als Herr Brickelmann nach Büroschluß heimkam, hängte er seinen Hut an den Haken im Vorzimmer. Er tat dies wie immer, er hängte den braunen Hut, den er sommers wie winters nie auf das leicht schüttere Haupthaar zu setzen vergaß, an den für ihn bestimmten dritten Haken von links, neben die Mütze seines Sohnes Wilhelm Brickelmann, vierzehn Jahre alt, und neben das dunkelblaue Filzmodell seiner Frau Elisabeth Brickelmann, geborene Eiselstädt, die noch zwei andere ganz ähnliche Kopfbedekkungen besaß, die sich wesentlich nur durch die Farbe – schwarz und dunkelgrün – voneinander unterschieden. Gekauft waren alle diese Hüte von dem nicht übermäßig hohen, doch gerade ausreichenden Gehalt, das Herr Brickelmann für seine Tätigkeit als Kalkulant einer Exportfirma am Ersten jedes Monats nach Hause brachte. Mit dem Vornamen heißt Herr Brickelmann Albert.
Er kam also, vor beinahe drei Jahren trug sich dies zu, heim und hängte seinen Hut an den Haken. Nichts Außergewöhnliches war an der Art, wie er dies tat, und nichts, was darauf hätte schließen lassen, es wäre an jenem Tag etwas geschehen, was ihn aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. Seine Frau, sie hatte das Zuschnappen der Wohnungstür gehört, trat aus der Küche.
»Du wolltest heute die Badewanne reparieren«, sagte sie leise, aber nicht wenig vorwurfsvoll. »Seit zwei Wochen hast du es dir vorgenommen, heute ist wieder alles überschwemmt.« Sie hatte in der Hand eine Schürze, die sie Herrn Brickelmann umband, was dieser widerspruchslos geschehen ließ. Er begab sich sogleich ins Badezimmer. Zum Abendessen war er mit seiner Arbeit fertig. Er setzte sich an den Tisch, nahm die Abendzeitung vor und begann zu essen, wobei er die Zeitung gegen die Teekanne lehnte und sie jedes Mal wieder geduldig zurechtrückte, wenn Frau Brickelmann Tee nachgegossen hatte. »Ich geh ins Kino«, sagte sein Wohn Wilhelm und stand auf, bevor noch die Eltern fertig waren. »Ich muß gehen, sonst komme ich zu spät«, rief er, als er die Tür hinter sich zumachte. Wilhelm, genannt Willy, erschien nur zu den Mahlzeiten in der Wohnung, den restlichen Teil des Tages war er unsichtbar, und niemand machte sich Gedanken über seinen Verbleib. Herr Brickelmann schob das letzte Stück Sardinenbrot in den Mund, spülte mit dem Rest Tee nach, nahm die Zeitung und setzte sich in den Sessel am Rauchtisch neben dem Radio. Er schaltete es ein, ohne sich weiter darum zu kümmern, las die Zeitung zu Ende und anschließend ein paar Kapitel aus einem Kriminalroman, den er am Nachmittag nach dem Büro aus der Leihbibliothek geholt hatte. Dann stand er auf und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Als er ins Schlafzimmer kam, lag Frau Brickelmann bereits im Bett, im Haar die Lockenwickler und im Mund ein Praliné. Er zog sich aus, legte die Kleider sehr sorgfältig auf einen Stuhl zusammen und sich selbst ins Bett daneben. Frau Brickelmann knipste mit dem Mittelfinger ihrer rechten Hand die Nachttischlampe aus. Gute Nacht, sagte sie und drehte sich auf die andere Seite. Herr Brickelmann sagte nichts. Er lag noch etwa eine dreiviertel Stunde lang auf dem Rücken und starrte in die finstere Luft.
Am nächsten Morgen, nach dem Aufstehen und Rasieren, las Herr Brickelmann beim Frühstück die Morgenzeitung, die er an die Kaffeekanne gelehnt hatte. Frau Brickelmann hatte sich nach Zubereitung des Frühstücks wieder ins Bett gelegt, Willy frühstückte auf dem Weg zur Schule in einem Milchgeschäft. Herr Brickelmann legte die Morgenzeitung zusammen, ging ins Vorzimmer, nahm seinen Hut vom dritten Haken von links und ging zur Straßenbahn, Linie 36, mit der er ins Büro fuhr. Der Schaffner kannte ihn. Er beachtete ihn nicht, Herr Brickelmann hatte eine Monatskarte. Das Fräulein im Büro legte ihm einen Stoß Papier auf den Schreibtisch, sie war neu, und er betrachtete ihre Beine, als sie wieder hinausging. Der Stoß Papier gab Herrn Brickelmann Anlaß zu intensiver Beschäftigung bis in den späten Nachmittag. In der Mittagspause ging er in das kleine Lokal um die Ecke, wo der Ober ihm wortlos das Menu und das kleine Bier auf den Tisch setzte, wie jeden andern Tag auch. Als er damit fertig war, legte er das Geld abgezählt auf den Tisch und ging wieder ins Büro.
Herr Brickelmann hatte am vorangegangenen Abend, nachdem er etwa eine dreiviertel Stunde lang in die finstere Luft starrte, nach sechsundzwanzig Jahren Beruf und fünfzehn Jahren Ehe, den Entschluß gefaßt, nicht mehr zu reden.
Das war, wie gesagt, vor drei Jahren. Frau Brickelmann hat sich in der Zwischenzeit noch zwei Hüte angeschafft, einen gelben aus Stroh und noch einen blauen mit sehr dezenter Blumengarnierung; sie hängen, je nach Jahreszeit, entweder am zweiten Haken von links im Vorzimmer oder liegen im oberen Regal des Kleiderschranks. Willy steht ein Jahr vor dem Abitur und geht jeden Abend ins Kino, seit drei Monaten mit einer Freundin. Herr Brickelmann legt jeden Monatsersten ein Kuvert mit Geld in die Schublade des Küchenschranks, der Schaffner der Linie 36 knipst am Morgen des gleichen Tages seine Monatskarte, das Fräulein im Büro legt jeden Morgen einen Stoß Papier auf seinen Schreibtisch, zur intensiven Beschäftigung bis in die späten Nachmittagsstunden. Herr Brickelmann hat sich an ihre Beine gewöhnt, sie sind ein wenig dicker geworden, und er sieht sie nicht mehr an. Der Kellner mittags im Lokal kommt und geht wieder.
Vor einigen Tagen suchte Herr Brickelmann den Zahnarzt auf, den gleichen wie ich. »Ein eigenartiger Mensch«, sagte der Zahnarzt, als er Herrn Brickelmann hinausgelassen hatte und ich im Stuhl saß. »Letztes Mal, beim Bohren, es war nur ein ganz kleiner Schaden am Zahnschmelz, es konnte gar nicht wehtun, da schrie er plötzlich los, derart laut, daß zwei Patienten aus dem Wartezimmer liefen. Als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, einmal schreien zu können. Geredet hat er noch nie ein Wort.«
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