1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Eine der Rezeptionsdamen rief jetzt bei Cato Isaksen an und sagte, sein Sohn sei eingetroffen. Sitze unten in der Rezeption und warte auf ihn. Cato Isaksen erhob sich und lief zur Tür.
Der Fünfjährige war schmutzig und verrotzt und nass.
«Ich hab Wasser in den Stiefeln, Papa», sagte er. «Können wir heute richtig Polizeiauto fahren?»
Cato Isaksen nickte der Rezeptionsdame kurz zu und legte dem Jungen den Arm um die Schultern.
«Nicht heute», sagte er.
«Ich zieh meine Stiefel aus», sagte Georg und streifte die blauen Cherrox mit Augen und Zähnen an der Spitze ab.
Cato Isaksen bückte sich und las sie auf. Die feuchten Kinderfuße hatten auf dem Fußboden kleine Spuren hinterlassen.
Als sie wieder nach oben kamen, war die Besprechung zu Ende gegangen. Alle machten sich wieder an ihre Arbeit. Ingeborg Myklebust war zum Glück nicht zu sehen. Er konnte ihre spitzen Bemerkungen, die immer fielen, wenn er sich um seinen Sohn kümmern musste, nicht mehr ausstehen. In vieler Hinsicht war seine Chefin eine umgekehrte Feministin. Sie ärgerte sich maßlos, wenn ein Kollege sich um seine Kinder kümmern musste. Für sie gab es nur die Arbeit, die kam vor allem anderen.
«Ich muss nur noch schnell was erledigen», sagte Cato Isaksen zu seinem Sohn, der seine Mütze abgezogen hatte. Seine Haare waren struppig und schweißnass. Ein Schmutzstreifen zog sich von seinem Ohr über die Wange bis zur Mitte des Halses.
Cato Isaksen suchte die Vernehmung der Zeugin heraus, die in der Nacht an Kathrine Bjerke vorbei gefahren war. Die Frau, die in Drøbak wohnte und ein kleines Kind hatte, war am 20. Februar um kurz nach Mitternacht auf den Tunneleingang zugefahren. Sie hatte ihren Mann von der Arbeit im Rainbow Hotel in Rjukan abholen wollen.
Während Georg alle Schubladen in den drei Aktenschränken öffnete und schloss, vertiefte der Fahnder sich in das Vernehmungsprotokoll.
Vernehmung von Heidi Greaker, * 06. 05. 1975
Ein Mädchen stand an der Bushaltestelle vor der Einfahrt zum Tunnel. (Zusatzauskunft: Oslofjordtunnel, Drøbakufer.) Das Mädchen, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kathrine Bjerke, von nun an KB genannt, handelte, stützte sich auf zwei Krücken und hatte einen Fuß auf den anderen gestellt. Sie trug einen schwarzen Snowjogger, von der modernen Sorte mit dicker, schwerer Sohle. Der andere Fuß war eingegipst. Die Scheinwerfer fingen ihr Bild ein und leuchteten die junge Frau einige Sekunden lang an. Sie trug einen beigen Dufflecoat und hatte halblange blonde Haare. (Stimmt mit den Auskünften der Mutter überein.) Sie hatte ein ernstes Gesicht. Die Zeugin, von nun an HG, schätzt sie auf zwölf oder dreizehn, sie kann natürlich aber auch bereits vierzehn sein. Sie hatte deutliche Ähnlichkeit mit der vermissten Kathrine Bjerke. Die Zeugin HG sagt: Obwohl ich sie nur einige Sekunden lang gesehen habe, erinnere ich mich so gut daran, weil das Bild so beunruhigend wirkte. Junge Mädchen sollten nachts nicht allein unterwegs sein Jedenfalls nicht so junge Mädchen. HG sagt, sie habe selber eine kleine Tochter, deshalb sei ihr das Mädchen so aufgefallen.
Die Straße führt an der Bushaltestelle vorbei und dann auf den Verteilerkreis. Es war kurz nach Mitternacht, am Dienstag, den 20. Februar. HG sagt, es muss unter Null gewesen sein, denn die Straße war mit Reif bedeckt und ziemlich glatt. In der Luft hing ein leichter Nieselregen, sagt HG, deshalb musste sie die Nebelscheinwerfer einschalten.
Die Tür öffnete sich. Roger Høibakk kam herein.
«Ich fahre jetzt nach Hause», sagte er. «Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt geschlafen habe.»
Cato Isaksen faltete das Protokoll zusammen und heftete es wieder in den Ordner. Dann nahm er das kleine Tonband heraus, auf dem die Vernehmung zu hören war, und legte es ins Tonbandgerät ein. Georg knallte so hart mit den Schubladen, dass es seinem Vater in den Ohren wehtat. «Lass das», rief Cato Isaksen seinem Sohn zu, und der schaute ihn verdutzt an.
Roger Høibakk ging zu dem Jungen hinüber und fuhr ihm durch die Haare.
«Gut, dass Ellen heiratet», sagte er. «Dann produziert dein viriler Vater nicht noch mehr Gesellen wie dich.»
«Jetzt hör aber auf», sagte Cato Isaksen kurz.
«O Scheiße», sagte Roger Høibakk grinsend. «Du denkst doch nur ans Vögeln.» Ein Lächeln verbreitete sich über sein müdes Gesicht.
Cato Isaksen winkte mit dämlicher Miene ab. Dann lachte er kurz. Er konnte nicht dagegen an, obwohl es ihn maßlos ärgerte, dass Roger die Sache mit ihm und Ellen durchschaut hatte.
Roger verließ das Zimmer. Cato Isaksen drückte auf den Startknopf des Tonbandgerätes. Einige Sekunden später hallte Heidi Greakers Stimme durch den Raum:
Wenn ich nachts Auto fahre, sehe ich ab und zu Dinge, die sich mir für einige Sekunden einprägen. Ich fahre in der Dunkelheit vorüber und registriere vielleicht einen Menschen, der die Straße entlanggeht, und bin für einen Moment erfüllt von dem Fremden, von dem Zeitpunkt, der Bewegung und dem Ort. Und dann vergesse ich das alles wieder.
Warum ist Ihnen das Mädchen aufgefallen, und warum der Zeitpunkt?
Da kam einfach alles zusammen.
Machte sie einen ängstlichen Eindruck?
Ich glaube, nicht. Es war eher, dass es so spät und so dunkel war, und dass sie so jung aussah. Und dann waren da noch die Krücken.
Cato Isaksen drückte auf den Aus-Knopf. Georg sagte, er habe Hunger, der Vater versprach, unterwegs etwas zu kaufen. Richtig essen würden sie später alle zusammen, wenn Bente vom Besuch bei ihrer Freundin zurückgekehrt wäre.
Es War Gegen vierzehn Uhr, am Samstag, den 1o. März. Cato Isaksen wollte selbst mit Alf Boris Moen sprechen. Bisher hatte er das Roger Høibakk und Randi Johansen überlassen. Obwohl es Samstag war, hatte sich Moen vormittags zu einer kurzen Vernehmung durch Asle Tengs auf der Wache eingefunden. Mental habe er den ersten Schock jetzt überwunden, hatte er gesagt. Aber die Sache machte ihm doch sichtlich zu schaffen. Im Verteidigungsministerium arbeitete er in einem Büro. Er hatte sich für einige Tage krankgemeldet. Was ja, in Anbetracht der Ereignisse, kein Wunder war.
Cato Isaksen und Randi Johansen gingen den Kiesweg zur John-Colletts-Allee 51 hoch. Der weiße Wagen stand vor dem Zaun. Das graubraune längliche Steinhaus lag in einem kleinen Garten, der in mehrere Parzellen aufgeteilt war. Das Haus hatte vier Wohnungen, die Haustüren lagen in den Querwänden. Das Gras war tot, die Bäume braun und traurig. Bald würde alles grün werden. Ein Hauch von Unruhe durchfuhr Cato Isaksen. Es war Frühling, und Ellen Grue würde bald heiraten. Das Gefühl von Verlust war ihm so vertraut. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Bente hatte gesagt, sie könne Georg mit zum Einkaufen nehmen. Er hatte versprochen, rechtzeitig zur Kinderstunde im Fernsehen zu Hause zu sein. Cato Isaksen und Randi Johansen gingen die Steintreppe hoch und klingelten.
«Vorgestern war der internationale Frauentag», sagte Randi Johansen plötzlich und zog ihre Jacke fester um sich zusammen.
Cato Isaksen fuhr herum und sah sie an.
«Ja, das weiß ich», sagte er. «Was hat das mit dem Fall zu tun?»
«Moen arbeitet doch im Verteidigungsministerium.»
Randi zuckte mit den Schultern.
«Glaubst du, er hat da Zugang zu Waffen? Das habe ich mich schon gefragt», sagte Randi.
«Kaum. Im Gegenteil, möchte ich meinen. Ich frage mich nur, ob er eine militärische Ausbildung besitzt.»
Bald hörten sie auf der Treppe schwere Schritte. Die Tür wurde geöffnet. Alf Boris Moen nickte Randi Johansen zu und bat beide herein. Er reichte Cato Isaksen die Hand, und der betrachtete ihn interessiert und versuchte, sich einen eigenen Eindruck von diesem Mann zu machen. Moen war ziemlich klein, hatte ein rundes Gesicht und fast keine Haare mehr. Cato Isaksen fielen seine kräftigen Hände auf. Als sie hinter ihm die Treppe hochgingen, sah er außerdem, wie breit der Hintern dieses Mannes war.
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