»Du bist jetzt gefragt, Thure, du musst Eva-Louise unterstützen. Und du wirst sehen, sie wird mit der Zeit darüber hinwegkommen. Das werden sie alle.«
Er konnte gerade noch den Satz hinunterschlucken, der ihm schon auf der Zunge lag. So etwas Einfältiges wie, dass die Zeit alle Wunden heile.
Auch der ansonsten so wenig sensible Dalman spürte, wie es um seinen Freund und Kollegen stand. Wall wusste, dass die Familien ab und zu privaten Kontakt hatten, auch wenn die Verabredungen in letzter Zeit spärlicher geworden waren, als Folge der Störungen in der Dalman’schen Ehe.
»Wir werden diesen Kerl schnappen«, sagte Dalman und klopfte Castelbo auf die Schulter. »Keine Sorge.«
Thure Castelbo zwang sich ein Lächeln ab, verstohlen wie die letzte Herbstsonne.
»Das werde ich Eva-Louise sagen. Heute Abend noch.«
»Tu das.«
In der Dämmerung wehte ein kalter Wind. Die Stadt war in neblige Kälte gehüllt. Ihm gefiel das. Es würde der richtige Abend für ihn werden. Ein herrlicher Abend. Der Abend der Revanche.
Aber noch war es zu früh, um irgendetwas zu tun. Er musste mindestens noch eine halbe Stunde warten, sonst konnte alles entdeckt werden, und die ganze Mühe wäre umsonst gewesen.
Die Gegend, die er nach sorgfältiger Überlegung ausgewählt hatte, war ein öffentliches Gelände, das Dalen genannt wurde und ein Stück südwestlich vom Zentrum lag. Er hatte es von hier aus nicht weit zu seiner kleinen Rentnerwohnung in Bäcken, wo er wohnte, seit er vor drei Jahren Witwer geworden war und keinen Grund mehr gehabt hatte, in der Bruchbude zu bleiben, in die er bereits 1949 gezogen war, im gleichen Jahr, in dem er seine Ester geheiratet hatte.
Natürlich kam es ab und zu vor, dass er die alte Gegend vermisste – in erster Linie vielleicht die Laube mit ihren vielen Erinnerungen –, aber er war kein ausgesprochener Nostalgiker. Was vorbei war, war vorbei. Jetzt ging es darum, sich mit der Gegenwart zu arrangieren, und er musste zugeben, dass es schön war, alle diese belastenden Pflichten los zu sein, den schwer zu pflegenden Garten, alle Zipperlein des langsam zerfallenden Hauses. Er war nie der große Handwerker gewesen, hatte meistens hilflos den Problemen gegenübergestanden, die in älteren Gebäuden nun einmal auftreten. Und einen grünen Daumen hatte er auch nie besessen.
Außerdem befand sich das Haus fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Seine jetzige Wohnung – seine letzte? – lag bedeutend günstiger, er konnte fast zu Fuß ins Zentrum gehen. Dabei wurde er durch kein Gedränge gestört, da Bäcken ein relativ spärlich besiedeltes Gebiet am Rande der eher begüterten Viertel im Süden war.
Außerdem war die Wohnung ausreichend groß, praktisch und mit den notwendigen modernen Geräten ausgestattet. Nette Nachbarn hatte er auch. Ordentliche, rücksichtsvolle Leute, die niemals Inliner fuhren.
Es gefiel ihm in seinem Zuhause, aber er war verärgert darüber, welche Entwicklung die Gesellschaft in den letzten Jahren durchgemacht hatte.
Man muss die guten alten Zeiten wirklich zu schätzen wissen, dachte er, als noch Recht und Ordnung herrschten, als die Leute sich auf den Straßen bewegen konnten, ohne sich vor Rasern auf Rollschuhen in Acht nehmen zu müssen.
Man denke nur an die arme Dame, der letzte Woche die Handtasche mit all ihrem Ersparten geraubt worden ist, mitten in der Stadt! Nicht ein Zeuge hat sich gemeldet. Im Bladet war berichtet worden, dass der Grünschnabel frech neben sie gerollert ist, die Tasche gepackt hat und verschwunden ist, bevor sie überhaupt reagieren konnte.
Wenn er diesen feigen Kerl vor sich hätte, dann ...
Klas Björke verzog sein Gesicht vor Abscheu und schlug die Arme um den Leib, um sich vor der Kälte zu schützen.
Da er nichts Wichtigeres zu tun hatte, beschloss er, einen kurzen Spaziergang durch das Viertel zu machen, um zu sehen, ob er vielleicht noch einen besseren Ort für die Durchführung seines Plans finden würde.
Doch schon nach wenigen hundert Metern setzte ihm sein verletzter Fuß zu, in dem sich, laut seinem Arzt, ein Knochenriss gebildet hatte.
Der alte Mann verzog sein Gesicht vor Schmerz und Wut.
Ihm wurde klar, dass er fast genauso wütend auf die Polizei war wie auf den Plagegeist, der ihn angefahren und dann auch noch so höhnisch gelacht hatte. Außerdem war seine neue Hose von dem groben Straßenkies zerrissen – er konnte ja wohl schlecht mit einem großen Flicken auf dem Knie herumlaufen.
Aber am schlimmsten war der Schlag gegen den Fuß. Die Verletzung würde vielleicht nie ganz ausheilen. Und all das nur, weil so ein Lümmel auf Rollschuhen sich nicht vorsehen konnte. Außerdem war er garantiert nicht der Einzige, der Opfer dieser Rücksichtslosigkeit wurde. Und was tat die Polizei dagegen, dass die Rüpeleien auf den Straßen und Fußwegen immer mehr um sich griffen?
Gar nichts!
Es ist nicht so einfach, dagegen etwas zu machen.
Genauso hatte er sich ausgedrückt, dieser spöttische Muskelprotz von Polizist, der seine Anzeige aufgenommen hatte.
»Aber das war ja nicht das erste Mal, dass ich von diesen Teufeln angefahren worden bin. Das ist mir schon früher passiert. Und ich weiß nicht, wie vielen anderen ...«
»Ja, ja, das habe ich schon verstanden«, hatte der aufgeblasene Bulle ihn angefaucht, »aber dann versuchen Sie bitte, mir eine Personenbeschreibung zu geben, damit wir etwas Konkretes in die Hand kriegen.«
»Wissen Sie, wie viele solcher unverschämter Gestalten sich hier in der Stadt herumtreiben und uns gesetzestreuen Mitbürgern das Leben zur Hölle machen? Hunderte! Und jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass ich die auch noch beschreiben soll. Die sehen doch alle gleich aus. Und außerdem war es dunkel, als es passiert ist. Dieser Typ hatte eine solche Fahrt drauf, dass ich kaum seinen Rücken erkennen konnte. Und außerdem sollten Sie dieser armen Frau ihre Handtasche ersetzen. Und außerdem können Sie mir alle mal den Buckel runterrutschen.«
»Nun nun, Alterchen, jetzt beruhigen Sie sich erst mal.« »Ich bin kein Alterchen, und schon gar nicht für so einen Flegel wie Sie!«
Er hatte seine Wut nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Ja, er hatte den Kopf verloren, das kam ab und zu vor, er war nun einmal cholerisch veranlagt. Aber meistens – fast immer – gab es einen Grund für seine Wut. Wie jetzt zum Beispiel. Er war friedlich den Fußweg entlangspaziert und von einem rücksichtslosen, unaufmerksamen Idioten auf Rollschuhen angefahren worden, der zu allem Überfluss auch noch ein höhnisches Lachen von sich gegeben hatte, als Björke auf dem Boden lag und sich in Schmerzen wand. Konnte man da etwa erwarten, dass er ruhig und besonnen einfach wieder aufstand, sich den Dreck abbürstete und weiterging, als sei nichts passiert?
Er hatte den Polizisten nach Strich und Faden ausgeschimpft, die Tür hinter sich zugeworfen und war wutschnaubend auf seinem schmerzenden Fuß davongehinkt. Er hatte sogar überlegt, ob er diesen aufgeblasenen Zwerg wegen Dienstvergehens und unbotmäßigen Verhaltens melden sollte, verwarf aber das Projekt, in erster Linie, weil er nicht so recht wusste, wie er da eigentlich vorgehen musste.
Später, als er sich etwas beruhigt hatte, war er noch einmal zum Polizeirevier gegangen, um seine Anzeige etwas freundlicher abzuliefern. Ein anderer Polizist hatte sich seine Klagen angehört, ein etwas älterer, mit größerem Verständnis und mehr Einfühlungsvermögen. Aber auch er hatte kein besonders großes Interesse daran gezeigt, sich dem Problem zu widmen.
»Sie haben natürlich wichtigere Dinge zu tun, als einem alten Fußgänger zuzuhören, der angefahren wurde«, hatte Björke gefaucht.
»Darum geht es nicht, Herr Björke. Wir wollen Ihnen natürlich nach bestem Vermögen helfen.«
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