Björn Hellberg
Ehrenmord – Schweden-Krimi
Saga
Ehrenmord – Schweden-Krimi
Übersetzt
Christel Hildebrandt
Coverbild / Illustration: Shutterstock
Copyright © 2002, 2020 Björn Hellberg und SAGA Egmont
All rights reserved
ISBN: 9788726445077
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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Damals
Er hatte gar keinen Revolver stehlen wollen, zumindest anfangs nicht.
Aber als sich so unverhofft die Gelegenheit bot, zögerte er nicht. Vielleicht würde er die Waffe ja irgendwann einmal brauchen können; wer konnte das wissen?
Der Junge hatte das Vereinshaus der Pistolenschützen erst betreten, als die internen Meisterschaften schon eine Viertelstunde lang in vollem Gang waren. Er hörte die Schüsse von der Mauer widerhallen, als er sich an das provisorische Bauwerk mit den beiden Umkleideräumen heranschlich. Das Gebäude sah aus wie ein umgekippter Würfelzuckerkarton. Es war wirklich kein Staat damit zu machen.
Er wusste, dass es normalerweise nicht verschlossen war. In diesen Kreisen vertraute man einander. Bei seinen Diebeszügen in der städtischen Sporthalle war er sehr erfolgreich gewesen, aber irgendwann hatten sich beim Hausmeister so viele Beschwerden angehäuft, dass die Aufsicht verstärkt wurde. Und die Sportler gingen inzwischen auf Nummer Sicher und nahmen ihre Wertsachen mit in die Sporthalle oder Sauna, da gab es nicht mehr viel zu holen. Vielleicht war seine Ausbeute hier ja besser.
Als er ins Haus trat, hörte er einen dumpfen Knall, der nicht von einer Waffe herrührte. Das Geräusch war natürlichen Ursprungs, und dem Jungen war sofort klar, dass jemand im Gebäude war. Er schlich vorsichtig weiter und sah das Besetztzeichen an der Toilettentür.
Sein erster Impuls war, Hals über Kopf zu fliehen. Er war bisher noch nie geschnappt worden, und dies sollte nicht das erste Mal sein.
Aber vielleicht schaffte er es ja doch noch, die Taschen der Hosen und Jacken zu durchsuchen, die an den Haken in dem kleinen Raum hingen. Er arbeitete fieberhaft, wurde aber nicht belohnt: Er fischte nur ein paar zerknüllte Taschentücher, ein Jo-Jo, zwei Bleistifte, eine leere Bonbondose und anderen Müll hervor. Davon nahm er nichts mit. Erst als er die Bänke in der Mitte des Umkleideraumes umrundete, entdeckte er den glänzenden Revolver, der zusammen mit einer Schachtel Munition auf der Bank gleich neben der Toilette lag.
Ohne zu zögern, nutzte der Junge diese Nachlässigkeit aus, schnappte sich den Fund und beeilte sich, aus dem Gebäude zu kommen.
Niemand sah ihn. Wie immer agierte er mit größter Vorsicht. Er hielt in alle Richtungen Ausschau, bevor er das Vereinshaus verließ. So aufgedreht, als hätte er gerade im Lotto gewonnen, erreichte er die Sicherheit der zentralen Straßen. Er wurde einer der vielen Anonymen, die sich im Zentrum drängten. Niemand beachtete ihn.
Er hatte das Diebesgut in einer Tüte verstaut und nahm Kurs auf seine Wohnung. Sein Vater würde wie üblich im Geschäft sein, also konnte er sich nach Hause trauen, ohne Gefahr zu laufen, gestört zu werden, wenn er seine Beute inspizierte.
Er wusste nicht besonders viel über Waffen und das Schießen, hegte aber ein breites Interesse für Sport. Hatte nicht ein Schwede namens Ragnar Skanåker vor kurzem bei den Olympischen Spielen in München vollkommen überraschend die Goldmedaille im Pistolenschießen gewonnen?
Wohlbehalten daheim, schloss der Junge sich in sein Zimmer ein und holte den Revolver hervor, wog ihn mit einem Gefühl der Macht in der Hand.
Er hatte so viele Möglichkeiten. Er konnte ihn beispielsweise verkaufen oder als Tauschobjekt benutzen. Oder – und dabei wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen – er konnte ihn auch selbst benutzen, für die Jagd oder in irgendeinem anderen Zusammenhang. Ja, warum nicht?
Aber noch nicht. Es war besser, erst mal Gras über die Sache wachsen zu lassen, den Revolver an einem so unzugänglichen Ort zu verstecken, dass niemand anderes ihn fand.
Er war stolz auf das, was er geleistet hatte. Niemand würde ihm auf die Schliche kommen. Es war ja nicht das erste Mal, dass er es geschafft hatte, ohne entdeckt zu werden; er war geschickt, so einfach war das, das hatte er schließlich schon früher bewiesen, als noch mehr auf dem Spiel gestanden hatte.
Jetzt
Er brannte darauf, die beiden Männer zu töten.
Er wollte es auf jeden Fall tun.
Der Gedanke an die Planung, die Durchführung und das zu erwartende Hochgefühl gaben ihm einen Kick. Schon jetzt. Und gewiss würde es noch besser werden.
Der bevorstehende Genuss versetzte ihn in eine gewaltige Erregung, ohne aber seine eiserne Beherrschung zu erschüttern.
Der Mann erhob sich aus dem abgewetzten Ledersessel. Rastlos lief er auf dem verschrammten Parkettboden hin und her, während er über Vorgehensweise und Zeitpunkte nachdachte.
Wen sollte er sich zuerst vornehmen?
Er überlegte, zauderte, wog Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Erst einmal zündete er sich eine Zigarette an, schob sie in den linken Mundwinkel und rauchte sie, während er seinen Weg durchs Zimmer fortsetzte: vier Schritte entlang der Stirnwand, fünf Schritte die Längswand entlang.
Natürlich war es seine Pflicht, sie zu ermorden, alle beide. Es handelte sich hierbei schließlich um die Einhaltung eines gegebenen Wortes, um seine Ehre.
Er war keiner dieser gemeinen Wortbrecher. Auf ihn konnte man sich verlassen.
Dennoch sah er den sich selbst auferlegten Auftrag nicht als Zwang an.
Im Gegenteil.
Es war ein Vergnügen, genau so, wie es eine Pflichterfüllung war.
In dem Moment, als er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, fasste er einen Entschluss.
Er wusste jetzt, wem die Ehre zuteil werden sollte, als Erster zu sterben.
Sein Puls hämmerte vor unterdrückter Spannung, und er meinte, den Schweiß unter den Achseln hervortreten zu spüren.
Er war bereit.
Worauf wartete er noch?
Number one, here I come!
Der Kriminaloberinspektor Jan Carlsson genoss das Frühstück zusammen mit seiner Ehefrau Gun auf der kleinen Terrasse in dem blickgeschützten Garten hinter ihrem Haus. Die Sonne schüttete Junihitze über sie aus. Gun war vollständig angezogen, während er in seinem abgetragenen, blau gefransten Morgenmantel dasaß. An den Füßen trug er offene Sandalen.
»Na, heute Abend wirst du sicher etwas später als sonst kommen«, sagte sie eher feststellend als vorwurfsvoll.
Er hob seinen Blick von den Sportseiten der Zeitung. Seine Augen waren blaubeerfarben und klar wie Quellwasser. Ihnen war sie zuerst verfallen, als sie sich kennen lernten. Und immer noch konnten sie sie so anschauen, dass es in ihrer Magenkuhle kribbelte. Seine Haut war dagegen nicht so anziehend. Er hatte eine Reihe von Pickeln auf der Stirn, und Kinn, und die Wangen waren vernarbt.
»Dass ich für ein paar Wochen zum stellvertretenden Chef werde, bedeutet ja nicht zwingend, dass ich mehr arbeiten muss als sonst«, sagte er.
»Das meinte ich eigentlich auch nicht. Sten tritt doch heute seinen Urlaub an, oder?«
Er nickte.
»Und fährt morgen nach Bornholm?«
Jetzt begriff er, worauf sie hinauswollte. Trotzdem tat er vollkommen unwissend.
»Natürlich«, sagte er. »Genau wie immer. Sten ist nicht der Typ, der seine Gewohnheiten unnötigerweise verändert. Aber was ...«
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