„Fein, daß Sie da sind“, sagte Paul nach einer etwas zu langen Pause. „Wir können gleich zu Mittag essen.“
Maria Andersson hob eine ziemlich große Aluminium-Milchkanne. „Nachher vielleicht“, sagte sie, „erst müssen wir arbeiten. Ich komme nämlich wegen der Brombeeren!“
„Das weiß ich“, antwortete Paul etwas verdrießlich, „aber eine höfliche Frau sagt so was ein bißchen indirekter.“
Maria lachte: „Ich muß mich an gute Manieren erst wieder gewöhnen. Man kann nicht gerade behaupten, daß die Männer sehr dazu herausfordern.“
Paul blinzelte sie spöttisch an. Dann ging er ins Haus und kam mit einem Stuhl zurück: „Bitte. Und nun warten Sie mal freundlichst, bis die Kartoffeln gar sind. Es gibt Pilze dazu.“
„Ich werde Ihnen helfen“, sagte Maria, „zu Pilzen reicht mein Küchenverstand noch.“
„Ein andermal“, sagte Paul, „heute sind Sie noch mein Gast.“
Sie sah, erstaunt über die Art, wie er über sie verfügte, etwas unwillig zu ihm hinüber. Aber er war schon in der Hütte verschwunden. Sie zog eine winzige Tabakspfeife aus der Kostümjacke, stopfte sie aus einem Silberbüchschen, das vormals wohl eine Puderdose gewesen war, und setzte sie in Brand. Es war Gerties Tabakspfeife, die sie allerdings selten genug geraucht hatte.
Paul sah ihr aus dem Fenster zu und fragte: „Rauchen Sie viel?“
Sie blies den Rauch behaglich von sich. „Welcher Raucher weiß schon, wieviel er raucht. Sie müssen übrigens die Pfeife entschuldigen. Zigarettenpapier macht mir leicht Kopfweh.“ Genau wie Gertie. Übrigens sah sie, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, sehr melancholisch und hilflos aus, ja, als habe sie eben erst ein fürchterliches Erlebnis hinter sich. Ihre leichte, lässige Art zu sprechen, ihr etwas kokettes Wesen waren nur Maske.
„Ich bekomme vielleicht heute nachmittag Besuch“, rief er, die Pilze in die Pfanne schneidend, „ich bringe Sie dann in die Brombeeren und lasse Sie allein.“
„Famos“, rief sie zurück, „ich dachte schon, ich müßte meinen Raub mit Ihnen teilen.“
„Nein — ich erhebe nur den Zehnten, ein billiger Grundherr.“
Bald darauf erschien er mit dem Essen. Als Tisch wurde ein Haufen behauener Ziegelsteine benutzt. Maria aß mit einem Heißhunger, den sie nur mühsam bezähmte.
„Wir können auch Pilze finden“, sagte Paul. „Ihre Leute essen sicher gern auch mal was anderes.“
„Ich bin ganz allein“, entgegnete sie, „das wissen Sie recht gut.“
„Woher soll ich das wissen?“ fragte Paul.
Sie reichte ihm mit einem seltsamen Ernst die Hand über die Ziegelsteine weg. „Daher“, erwiderte sie, „genau wie ich weiß, daß Sie ganz allein sind. Die Luft um Sie. Darin gibt es keine Menschen.“
„Meine Eltern zum Beispiel leben noch“, sagte er hartnäckig.
„So?“ sagte sie uninteressiert. „Dann sind Sie ja noch ganz gut dran.“
„Ihre Leute ...“, versuchte Paul und machte eine Bewegung, die heißen sollte: Alle tot.
Maria Andersson griff statt einer Antwort in die Kartoffelschüssel und legte sich noch einmal auf. Während sie die Kartoffeln zerteilte und sorgfältig Pilze darüberbreitete, blickte sie aufmerksam auf den Teller. „Und dann“, sagte sie bitter und kühl zugleich, „hat man wieder den besten Appetit. Komisch, nicht wahr?“
„Ich finde das sehr schön“, sagte Paul trotzig. Er sagte es schärfer, als es eigentlich notwendig war. Denn dies war es ja eigentlich, was ihn beunruhigte: daß er nach allem Geschehenen, nachdem er hinabgeworfen war in das Tal vollständiger Resignation, hinausgeworfen aus allem, was ihm bis dahin das Leben bedeutet hatte, im Grunde ganz vergnügt, ganz lebendig hier in der Jagdhütte hauste. Daß er geglaubt hatte, an seiner Arbeit zu hängen — und hatte sie nicht mehr. Daß er gemeint hatte, stolz zu sein auf seine paar Häuser, die wirklich gut waren, Wohnhäuser, in denen man ein anständiges, von außen ungestörtes Leben führen konnte — und diese Häuser waren alle vernichtet (bis auf eins am Neckar, unweit Heidelberg). Daß er geglaubt hatte, Freunde zu haben, an denen er hing, mit denen er herrliche Gefechte gehabt hatte um die letzten Dinge — und sie waren verschollen, gefallen, in den Trümmern der Städte untergegangen, in den Steppen Rußlands verschwunden, und er lebte weiter. Weßmer, der Anwalt, Rohleder, der Philosoph, Klinder, der feinsinnige Antiquitätenhändler, Wollenhaupt, der exzentrische Dramatiker mit dem kahlen Schädel, dem schütteren Lachen und dem herrlichen Chopinspiel. Weg waren sie, und sein Leben ging weiter, war scheinbar nicht ärmer geworden. Und Gertie, die Frau, die er sich so mühsam erobert hatte, nein ... nicht mühsam, sondern in einer einzigen rasenden Attacke, in einem Furioso der Leidenschaft, das ihn zwei Monate lang völlig aus der Bahn geworfen hatte, Gertie, mit der ihn bis zum letzten Tage eine immer neue Leidenschaft verband, eine romantische, witzige, helle Zuneigung, Gertie war tot. Damals, in den Anfängen ihrer Liebe, als sie noch die Frau des Großindustriellen Höhdewald gewesen war, war er sogar beinah für sie in den Tod gegangen, in einen leichtfertigen, herausgeforderten Tod. Für drei Stunden konnte er sie in Berlin treffen, und er saß in Wien. Auf dem Flugplatz war Startverbot. Denn es wehte ein Orkan, wie er nur alle zehn Jahre einmal über Mitteleuropa dahinrast. Und er hatte einen tollkühnen jungen Piloten überredet, ihn für 2000 Mark nach Berlin zu fliegen. Ein völlig wahnsinniger Flug. Die kleine Maschine trudelte dreimal beinah ab. Und beim Landen wurde sie fast gegen die Abfahrtshallen von Tempelhof gedrückt. Aber er kam an, und er sah Gertie, für eine halbe Stunde allerdings nur, und verriet ihr nichts davon, was er ihretwegen unternommen hatte, und sie nahm es auch als ganz selbstverständlich hin. Ein Orkan über Europa — das war noch lange kein Grund, sich nicht zu treffen. Es war also wirklich eine Liebe gewesen, fast ohne die Niederungen des Alltags, so wie man sich eine Liebe wünscht und sie eigentlich nie bekommt. Und nun war Gertie tot, und er lebte weiter. War das nicht eigentlich eine Schweinerei? Gehörte es sich nicht, nun auch mit Anstand in den Tod zu gehn?
„Ich esse Ihnen zuviel“, lachte die Andersson.
Er wachte aus seinen Gedanken auf. „Warum?“
Sie antwortete: „Nein — ich weiß schon, warum Sie so zornig blicken.“
Er stand auf und räumte das Geschirr ab. Er ließ es zu, daß sie ihm jetzt dabei half.
„Wollen wir gleich abwaschen?“ fragte sie.
„Nein .. nachher. Jetzt scheint die Sonne zu schön.“
„Nachher haben Sie doch Besuch?“
Er tippte sie leicht auf die Schulter: „Das war gelogen. Ich habe keinen Besuch.“
Sie sah ihn spöttisch an. „Ich dachte, Sie sind ein kluger Mann?“ Und als er sie fragend anblickte: „Soviel könnten Sie schon kapiert haben: Ich bin keine Klette. Mich wird man ziemlich leicht los.“
„Ja ... das merke ich. Sie hängen an gar nichts.“
Sie wandte sich schnell ab und ging vor ihm aus der Tür hinaus. Die Sonne schien mit herbstlicher Stärke und Milde auf die Autobahnschneise. Es lagen noch rostige Gleise dort, umgekippte Sandkarren. Sie fanden sogar, von Laub und Sand zugeweht, eine Spitzhacke, die Paul triumphierend als Strandgut erklärte und mit sich nahm. Vielleicht, so meinte er, werde er noch einen Keller unter dem Jagdhaus ausheben, und dafür brauche er eben diese Spitzhacke.
„Sie wollen also für immer hierbleiben?“ fragte sie.
„Was heute so für immer ist. Vierzehn Tage, drei Wochen oder auch drei Tage. Und Sie?“
Sie zuckte die Achseln. „Ich bin auch so ein Zigeuner“, sagte sie. „Aber ich tauge nicht sehr gut dafür. Irgendwohin müßte man eigentlich gehören, nicht wahr?“
Er lachte: „Ich glaube, das ist nur eine Gewohnheit und ein Vorurteil.“
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