Er blickte fragend zu Paul auf, um an dessen Gesicht zu ermessen, ob er weiterreden dürfe. Aber der schien ganz in seine Maurerei vertieft, kniete vor der Richtschnur und warf nur einen flüchtigen Blick auf den alten Huhn, der, den Greisenkopf zwischen die Schultern gezogen, jenes feierliche Zuhörgesicht machte, das er sich für seine Sanatoriumsdamen eingeübt hatte.
„In irgendeiner Nacht“, fuhr Gerberstedt leise fort, „war es dann aus mit meinem Widerstand, und am nächsten Morgen packte ich ein paar meiner seidenen Hemden — auch die hatte ich mir machen lassen, feine Maßhemden, das Stück für 45 Mark —, die schweren Seidenstrümpfe und die Lackschuhe, zog den schwarzen Anzug an und einen langen Wintermantel, leicht, weich und warm und gegen die Mode bis an die Knöchel reichend, und fuhr nach Berlin. Sie denken nun wahrscheinlich, daß mich dort irgendeine der feinen Damen erwartete, um die ich mich in einsamen Nächten verzehrt hatte. Aber das war nicht so. Ich behaupte zwar nicht, daß sie mich nicht angezogen hätten, wenn sie, angemalt wie antike Hetären, gelackt und gepudert, mit hochhackigen Trippelschritten durch die nachthellen Straßen gingen, gefährlich gleißende, verführerisch duftende Blumen, oder wenn sie in den puritanisch strengen und doch mit höchstem Luxus eingerichteten Berliner Salons in Samtsesseln lehnten. Ich behaupte auch nicht, daß ich jeder näheren Begegnung entgangen wäre. Aber das war nicht die Hauptsache, und die Menschen — es sind besonders die Frauen —, die behaupten, daß die Verführungen des Fleisches die sind, die uns am weitesten von uns wegführen, irren oder legen doch wenigstens das Maß ihrer Gewöhnlichkeit auch an die ungewöhnlichen Menschen und urteilen somit im Wortsinne vermessen.“
Wieder ein Blick zu Wolffenau hinauf, um festzustellen, ob nicht wenigstens dieses Wortspiel ihn zu einem Lächeln bringen könnte. Und wirklich lächelte Paul. Aber Gerberstedt verstand ganz gut, daß es eher ein Lächeln des Mitleides als des Einverständnisses war. Ja, es war ein mitleidiges Lächeln, weil der Sechsunddreißigjährige feststellte, daß hier die Kämpfe einer Generation ausgebreitet wurden, über der schon die abendlichen Schatten lagen, und daß das, worum Gerberstedt in wirklich schweren, gefährlichen Kämpfen gerungen hatte, für ihn eigentlich immer schon belanglos gewesen war oder, wie man das früher nannte, höchstens interessant. Was Wolffenau nicht wußte, das war die Tatsache, daß seine Überwindung nicht vermittels eines überwindenden Kampfes vor sich gegangen war, sondern ganz ohne Verdienst, einfach dadurch, daß die Welt in ihren langsamen Drehungen sich aus dem Bereich dieser Probleme weggedreht hatte und anderes, Schweres und Leichtes, Mildes und Scharfes, in die Sonne der Entscheidung hineingedreht worden war.
„Nein“, fuhr Gerberstedt fort und langte nach Wolffenaus Tabaksbeutel, den dieser ihm gönnerhaft hinhielt, „das alles war es nicht. Sondern es waren zuerst einmal die ganz gewöhnlichen Versuchungen des leichten, leeren Zivilisationslebens, die mich anzogen. Das morgendliche lange Bad im Luxushotel, dem man noch ein nächtliches bei der Heimkehr aus den Gesellschaften hinzufügen konnte, die herrliche Weichheit und Anschmiegsamkeit der Hotelmatratzen, die leichten Leckereien der Bars und Eßparadiese mit den schweren Weinen und den buntfarbigen Drinks, die ölig schnurrenden Autos, von denen einer meiner Anhänger mir einen schwarzen Ford mit roten Lederpolstern zur Verfügung stellte, mit einem jungen Taugenichts von Fahrer in riesigem Gehpelz, mit gräflichen Manieren und profunden Kenntnissen von allen Etablissements ...“
„Hören Sie auf“, stöhnte Huhn und riß an seinem Bart wie weiland Hiob in seinen dunkelsten Stunden.
Gerberstedt sah leer über ihn hinweg und sprach weiter: „Das alles war es immer noch nicht. Nicht das Eigentliche. Es war nur die Untergrundsmelodie, eine freilich angenehme, sehr singbare Weise, zu deren Musik ich über die kraftvollen und wohleingedämmten Flüsse der Zivilisation dahinschwamm. Das Wesentliche war der Weihrauch, der mir gespendet wurde, der Honig des Ruhms, von dem ich Tag und Nacht schlecken durfte, im kleinen Kreise kluger Männer und schöner Frauen, in größeren Gesellschaften, auf denen sich der Kreis der Zuhörer schließlich doch immer nur um mich sammelte. An Vorlesungsabenden, an denen ich aus meinen Erkenntnissen und Einsichten wohltönend und predigerhaft vorlesen konnte. Und das alles in einer weichen Luft, in der meine stürmischen Gedanken verblasen wirken, Tiefsinn sich in Absurdität verwandeln mußte und Gottesdienst schließlich — aber das verstehn Sie nicht mehr — in Teufelsanbetung.“
Er hatte die Augen geschlossen. Er atmete schwer und tief. Auch eine Beichte vor Weltkindern schien zu erleichtern. Die Demütigung vor ihnen erhob ihn in den geistlichen Bezirken zu einer angenehmen Überlegenheit. Er lächelte bescheiden. Dann zog er endlich das Fazit. „Für mich also mußte das alles untergehn und zugleich auch meine Zuflucht in der Wildnis Masurens, die ich ja leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte, samt Frau und Kindern. Und sehn Sie ... so wie ich alles verlieren mußte und nun wie ein Bettler leben muß, franziskanisch einfach und ohne andere Ablenkung als die Abwehr der äußersten Not und Notdurft, so bitte ich Sie, das nur als Beispiel zu nehmen. Gott — oder, wie Sie sagen werden, das Schicksal — hat mir und uns das Unnütze genommen, das Versucherische, das Ablenkende und Glänzende, und uns auf den Weg nach innen gewiesen. Von da aus, aus der Tiefe wirklicher Leibesnot, aus dem Abgrund der Sünde und Schuld, in den wir mehr hineingefallen sind, als geführt wurden, kann uns nun die Einsicht in die wahre Natur des Menschen und der Dinge und in das, was uns wirklich not tut und nötig ist, herausretten.“
Endlich schwieg er. Aber es schien, daß er noch einiges hinzuzusetzen hatte, und deshalb sagten die beiden Zuhörer nichts. Paul war mehr abgestoßen als angezogen von dieser Beichte, wenn ihn auch einige Worte getroffen und angerührt hatten. Aber darüber stand ein kleiner Spott. Denn es schien ihm recht einfältig und andererseits grandios hochmütig, daß zur Errettung des Herrn Gerberstedt aus seinen Versuchungen eine siebenköpfige Familie, ja ein ganzes Volk geopfert werden mußte, und er fand, daß der Schriftsteller dieses Opfer allzu großmütig seinem Gotte vergab. Wahrscheinlich hätte er das auch gesagt. Aber in diesem Augenblick geschah etwas, was ihn bis zum Entsetzen ablenkte. Unten nämlich, in der kleinen Talsenke, die sich vor dem Jagdhaus hinzog, kam eine Frau vorüber, genau wie die anderen auf Pilz- oder Brombeerjagd oder auf Holzsuche, mit einer großen Markttasche in der Hand und einer Jagdtasche am Schulterriemen. Sie ging ziemlich schnell. Unzweifelhaft trug sie das kirschrote Complet der toten Gertie, und eine Sekunde lang war es Wolffenau wirklich, als ob die sehr geliebte Tote vorüberginge. Dann fiel es ihm natürlich ein, es müßte jene Frau vom Bahnhof der Verdammten sein, und er dachte, er sollte sie laufen lassen. Was ging sie ihn an? Er zögerte. Dann ließ er sein Werkzeug fallen und ging, ohne an seine erstaunten Gäste ein Abschiedswort zu richten, sehr schnell hinter ihr drein.
In dem sanft geschwungenen Tal hinter dem Jagdhaus wuchsen am sandigen Hang kleine, vom Flußwind hingesamte Akazien, Himbeeren, die schon vergilbt waren, und Brombeeren, deren Laub sich rot zu färben begann. Paul konnte die Frau nicht gleich entdecken. „Hallo!“ rief er, „hallo!“ und ärgerte sich gleichzeitig über sein albernes Benehmen. Was wollte er von der Frau? Wollte er sich seiner edlen Tat, seiner großmütigen Geschenke rühmen? Nein — das war es nicht. Er folgte vielmehr magnetisch angezogen und wider Willen jenem kirschroten Complet, obgleich er wußte, daß diese Begegnung nur schmerzliche Erinnerungen bringen würde, Bilder, die halb vergessen waren und die er, da sie nie wieder Leben werden konnten, besser vergaß. Oder soll man nicht vergessen, dachte er? Soll man sich tapfer dem Schmerz stellen und ihn Auge in Auge niederringen? Er fühlte es in diesem Augenblick, daß er immer wieder versucht hatte, schmerzlos zu leben, voller Spott über die Jammertaltanten und Schmerzsusen, die im Schmerze wühlten wie die Wildschweine im Kartoffelacker, bis alle Früchte herausgewühlt waren. Darum hatte ihn dieser unausweichliche Schmerz getroffen, damit er ... wie? ... ja, damit er das Leben in seiner ganzen Fülle erkannte und nicht nur in der Magerkeit der Freuden, in seiner dunklen Tiefe und nicht nur in der glatten, besonnten Oberfläche. Immer hatte er ausweichen können. Selbst im Kriege, der zu schaurig war, um zu packen, zu gräßlich, um ihn anzurühren, zu unvernünftig, um die Grundfesten seines auf Vernunft gegründeten Lebens zu erschüttern. Und nun ging er also durch das Unterholz und suchte den unausweichlichen Schmerz der Erinnerung an endgültig, unwiderruflich Verlorenes. „Hallo!“ und noch einmal ärgerlich und kindisch ungeduldig: „Hallo!“
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