Aber so einfach lagen die Dinge doch nicht. Die Frommen und Geduldigen hatten ja auch eine Zeit ihrer Herrschaft gehabt. Oder wenigstens hatten sie Macht ausgeübt durch ihre Kirchen. Wie kam es denn, daß die Kirchen unfähig waren, die soziale Frage zu lösen, daß sie hinter allen Entwicklungen der materiellen Welt dreinstolperten und der kleine Mann erst in der Hölle eines menschenunwürdigen Daseins verschmachten mußte, ehe sie sich überhaupt auf sein Dasein besannen? Warum war die katholische Kirche nicht die Fürsprecherin, nicht die erste Führerin des Proletariats gewesen, damals, als es wirklich noch ein Proletariat gab? Wieso forderte sie nun, da die Proletarier aus eigener Kraft zu Arbeitern, zu gleichberechtigten Menschen geworden waren, daß sie sich bei ihr bedankten? Mochte es nicht in den Lehren der Kirche und schon gar nicht in den Lehren Jesu begründet sein ... wer wollte denn leugnen, daß bei Begräbnis und Taufe, bei Hochzeit und Kommunion die Reichen auf den besseren Plätzen saßen, daß sie die angesehenen Mitglieder der Gemeinde waren und daß es demnach immer so aussah, als ob auf Erden jedenfalls die Reichen Gott wohlgefälliger seien als die Armen! Er erinnerte sich noch genau, mit welchen demütigen Verbeugungen die Prälaten und Kaplane und Pfarrer in das Haus seines Großvaters Alexander Wolffenau gekommen waren und wie die Pastoren und Superintendenten seinen Vater untertänig behandelten, der auf Wunsch seiner hugenottischen Frau, der Komtesse Mossigny, zum Protestantismus übergetreten war. Die Reformationen und Revolutionen richteten sich also nicht immer, wie es Gerberstedt behauptete, gegen Gott, sondern manchmal auch gegen seine kleinen und ungetreuen Verwalter auf Erden, gegen die Verfälscher der Lehre Jesu, gegen die Mächtigen, die vor dem Thron als schwer zu erstürmende Barrikade den Altar schützend aufbauten, um jeden Aufstand gegen die Herrschenden als einen Aufstand gegen Gott diffamieren zu können. Ein famoser Trick eigentlich, der, wie man es gesehn hatte, auch dann noch zog, als die Throne versunken waren und die Altäre ihre Macht eingebüßt hatten. Selbst der Diktator bemühte die Vorsehung und den Allmächtigen, um jede gegen ihn gerichtete Aktion, ja jede Mißbilligung als Gotteslästerung mit dem Tode bestrafen zu können. Nein, nein ... die Gläubigen machten es sich zu bequem. Durch ihr Versagen war der Glaube zu Trümmern und Schutt verfallen. Es war nicht möglich, aus den gleichen Steinen und mit längst Stein gewordenem Mörtel einen neuen Glauben zu errichten. Es hieß also: neue Steine brechen, neuen Mörtel mischen, neue Pläne zeichnen, neue bescheidene Arbeiter heranziehn. Aber das alles war nicht seine Aufgabe. Er war ja ein Ungläubiger, ein ganz und gar Vereinzelter, der sein Leben nach eignen Anschauungen und Wünschen geführt hatte, ohne zu meinen, daß seine Anschauungen und Wünsche für irgend jemanden verbindlich sein müßten. Wie aber kam es, daß ihn in seiner Einsamkeit plötzlich die Gottsucher aufsuchten, Bröseke, der einfache Protestant, der vom Euangelion sprach, der guten Botschaft Gottes an alle, und der Neukatholik Gerberstedt, der sein Leben als Beispiel empfand und, ein umgekehrter Christopherus, der Welt seine Last zu tragen und zu ertragen aufgab? Was wollten sie von ihm? Was wollte das Schicksal von ihm, daß sie diese Männer vor seine Tür schickte?
Er warf das Buch in die Ecke und trat hinaus. Der Himmel hatte sich aufgeklärt. Der Vollmond, schon ein wenig dem Abnehmen zugeneigt, stand über den drei Buchen am Hang und schien mit grellen Strahlen auf die geweißte, gerundete Mauer. Ein Käuzchen lockte, eine Eule strich, auf Mäusejagd, unsicher im Mondlicht taumelnd von Wipfel zu Wipfel. Das Wetter versprach schön zu werden. Denn es war schon ziemlich kalt, und der Nebel hielt auf dem Fluß, wagte sich nicht in den Wald hinein. Maria Andersson würde kommen. Morgen. Und wenn sie wirklich kam? Das war doch nichts anderes als ein teuflischer Betrug, ein irrsinniger Versuch, einer fremden Frau in Gerties Kleidern die Rolle der so schmerzlich Vermißten anzuvertrauen. Gertie haßte übrigens den Mond. Bei Vollmond war sie fast immer schlaflos, saß bei zugezogenen Vorhängen (schön waren sie übrigens, die hellblauen, schweren Vorhänge nach der Morgenseite, nach außen mit Seide in zartesten Morgenrotfarben gefüttert), saß in sich zusammengekauert im Bett, eine Pralinenschachtel neben sich, aus der sie gedankenlos aß, verschiedene Parfüms um sich versammelt, die sie zu einem Blumenstrauß, einem Geruchsbukett zu mischen suchte — ein beneidenswertes Luxusgeschöpf also, ein unnützes Menschenkind, nur zur Freude von Männern geschaffen, die es sich leisten konnten, sie zu kleiden, zu ernähren und in einen herrlich ausstaffierten Schmuckkasten von Haus zu setzen. Eine asoziale, hassenswerte Erscheinung also? Ach, hättet ihr sie gesehn, dachte Paul, in den Mondnächten, ausgeliefert den bösen Strahlen des verführerischen Gestirns, ganz erfüllt von dem kalten Schein einer unbekannten kalten Welt, wärmebedürftig, sich nach Sonne sehnend, ein lunarisches Geschöpf, ihr hättet ihr nicht ihr blumenhaftes Dasein geneidet, das so schnell verwelken mußte. Nur die Ausgelieferten, die Melancholischen haben diese Anziehungskraft, dachte er weiter. Sie haben die verstehende und verzeihende Weite, den Humor, der aus dem Gefühl der eignen Unzulänglichkeit kommt. Sie allein haben die schwebende Leichtigkeit, die das Leben erst atmenswert macht, sie allein die göttliche Unbekümmertheit, alle männlichen Werte auf den Kopf zu stellen und damit ihr mangelndes Gleichgewicht zu erweisen. Denn ein wahrer Wert, eine absolute Wahrheit balanciert auch noch auf dem Kopf. Sie braucht keine Verteidiger, die sie mit sturem Ernst beschirmen. Ach, wenn er jetzt, wie er es in Mondnächten früher oft getan, in ihr betäubend duftendes Zimmer hätte treten können, sie auf den Arm nehmen wie ein Kind und im Zimmer hin und her tragen und ihr erst verängstigtes, klagendes Geschwätz, dann, wenn sie getrösteter wurde, ihre gaminhaften Frechheiten, ihre zügellosen, sündhaften Wortspielereien anhören, bis er sie, wenn sie einschlief, vorsichtig wie ein kleines Tier im Bett ablegte und sorglich zudeckte oder sich neben sie legte und mit ihr spürte, wie der tückische Mond um die Hausecke wegging und endlich drüben hinter den Pappeln verschwand.
Er blickte auf. Unbeweglich schien der Mond auf dem Fleck zu verharren, und seine kalten Strahlen erkälteten langsam sein Blut, bis zu Totenstarre. In diesem Augenblick wünschte er sich tatsächlich, ihr nachzusterben — eine lebensgefährliche Sentimentalität, wie er abwehrend dachte. „Wenn du stirbst“, hatte sie an ihrem letzten Abend auf dem letzten Berliner Urlaub gesagt, „wenn du wirklich stirbst ... ich lebe bestimmt weiter. Ich habe ja nichts anderes als das Leben. Das muß man doch festhalten. Bilde dir also nicht ein, daß ich in Trauer wie eine indische Witwe mich verscheitern lasse oder mein Leben allein verbringen werde. Nach einem bißchen Weinen bist du ausgelöscht. Merke dir das. Sieh also zu, wenn du mich behalten willst, daß du am Leben bleibst.“ Und nun wollte er nicht mehr leben, weil sie nicht lebte? Das war ein ganz verdammter Unsinn. Nein ... es war gut, daß das Wetter besser wurde und Maria Andersson kam. War das wirklich gut? Er wußte schon, indem er dies dachte, daß er in Maria nicht von Gertie wegwollte, nein, auf betrügerische Weise zu ihr hin. Nicht zum Leben wünschte er zurückzukehren, sondern sich wieder über die Tote zu beugen. Sie soll lieber nicht kommen, dachte er und wandte sich.
Der Tag wurde heiß und heiter. Gegen Mittag kam Maria Andersson. Wolffenau haute gerade die letzte Nute in einen Balken und hatte ihre Schritte nicht gehört. „Also ... da bin ich“, sagte sie mit ihrer dunklen, verschleierten Stimme, die Gott sei Dank gar nicht an Gerties Vogelstimme erinnerte. Aber sie trug Gerties Gabardinekostüm und ihre hellblaue Bluse, die er ihr eines Tages bei Horn in der Tauentzienstraße gekauft hatte. Natürlich, es war die Bluse, die sie nie zu tragen geschworen hatte. Denn während des Anprobierens hatte Paul in einer „unverschämten Weise“ mit der sehr hübschen, schönbusigen Verkäuferin kokettiert, und Gertie, die ihre fast knabenhaften Brüste als ein Manko empfand, war sehr böse geworden. „Kauf dir bitte die Busionärinnen, wenn ich nicht dabei bin“, hatte sie gesagt. „Es ist taktlos, seine eigene Frau indirekt auf ihre Fehler aufmerksam zu machen.“ Und als sie dann auf den Kurfürstendamm kamen, hatte sie ihn in einen Schönheitssalon mit hineingezogen und mit Trompetenstimme eine Zweikilopackung „Megabusol“ verlangt, mit dem Zusatz: „Mein Mann liebt nämlich das Üppige.“ Das war so ihre Art, die kleinen Verstimmungen und Streitereien aufzuheben. Er sah die funkelnagelneue Bluse prüfend an. Ein sehr schönes Stück, eine feine Pariser Arbeit! Und Maria Andersson hatte, wie er feststellen mußte, kräftige, wohlgebildete Brüste.
Читать дальше