Wer hatte es gemacht? Wer war schuld? Sie konnte es nicht sagen. „Niemand ist schuld oder jeder“, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihn nach den Kriegsschuldigen fragte. Das war sicherlich gerecht. Sie aber war nicht so gerecht. Sie wollte einen Schuldigen haben.
Als sie wieder hereinkam, lag Brincken lächelnd im Bett. Er hatte sich einen Scheitel durch seine harten Locken gezogen. Um seinen Hals, der oben dunkelbraun und unten hellweiß war, stand ein sauberes, rotgebortetes Nachthemd, das Gesine gebracht hatte. Er war zum erstenmal ganz klar. „Habe ich mich vorgestellt?“ fragte er.
„Nein“, sagte Tungern, „vorgelegt. Du pflegst zu stürzen, wenn du dich stellst.“ Brincken küßte Gesines Hand, bedankte sich, legte sich seufzend in die Kissen und schlief sofort ein. Ihre Hand behielt er, zog sie an sich, legte sie auf sein Herz. „Das Fieber ist noch sehr stark“, sagte Gesine und fühlte das heftige unruhige Schlagen des Blutes bis in ihren Kopf hinein.
„Ich kann nun wohl gehen.“
Tungern schob ihr einen Stuhl hin. Sie setzte sich. Gib mir mal die Hand, dachte sie, nein, die rechte Hand. Sie hatte das Gefühl, als ob sie dem jungen Menschen etwas wiedergab, was man ihm gegen alles Recht genommen hatte.
So saßen sie ungefähr eine Stunde. Tungern am Fenster, ab und zu fiel ihm der Kopf auf die Brust, dann schnarchte er ein paar Töne und weckte sich mit dem eigenen Schnarchen. Gesine am Bett, die rechte Hand auf Brinckens Herz, die linke schwang mit im Fieberschlag. Die Nacht lichtete sich ganz allmählich, die Dämmerung kam, eine Amsel flötete von der Linde am Parktor, die Kühe wachten auf und muhten, die Hähne krähten herausfordernd, fernher antworteten die Brandhoffschen Kollegen, die Brunnen fingen an zu planschen, Knechtsstiefel stolperten, Mägde riefen, ein Wecker klirrte bei Kornmann, dem Diener, der alle städtischen Einrichtungen liebte. Im Stall unter dem Zimmer begann die Milch gleichmäßig in die Eimer zu zischen.
„Und nun wollen Sie also nach Hause marschieren“, sagte Gesine Otten langsam.
Tungern, der gerade in Gedanken über die Birkenallee von Domingen gegangen war, die Birkenallee der Kindheit, deren dicke Stämme der Knabe nicht umfassen konnte und deren zarte, herabhängende Äste sanft über die Stirn streiften, wenn man hinauftritt, Tungern, der das hellgelbe Barockschloß gesehen hatte, ebenerdig, schön ausgeschwungen, von zwei mächtigen Linden flankiert und dann den Steinhaufen, das Brandgeröll, das nie wieder zu sehen er sich geschworen hatte, Tungern stand schwerfällig auf, beugte sich über die seltsame Frau, die ihm seine Gedanken hinter der Stirn hervorholte, sah sie mit seinen rotumränderten wimpernlosen müden Augen an und sagte:
„Ja, denken Sie. Endlich bin ich mürbe.“
Er sagte das ruhig, würdig, ohne Anklage gegen sich oder andere.
Gesine verstand ihn nicht ganz genau. Aber sie konnte sich denken, daß ein langer Kampf dazu gehört hatte, um aus dem Erbherrn einen Mann zu machen, der nur noch Kätner auf einem Stückchen seines Herrensitzes werden wollte.
Sie zog nun endlich ihre Hand aus der Hand Brinckens. Ihr Arm war eingeschlafen und schmerzte ein wenig, als ob etwas von Brinckens Krankheit hineingezogen war.
Sie sagte nichts. Sie nickte und ging hinaus.
Der lange Tungern stand eine ganze Weile und sah die Tür an, durch die sie weggegangen war. Das war seit Jahren, seit „damals“ eigentlich die erste Frau, zu der er ja sagte.
Er streckte sich seufzend auf seinem Bett aus und schlief sofort ein.
Gesine wachte nach zwei Stunden sehr frisch auf. Sie frottierte sich heftig, indem sie sich mißbilligend im Spiegel ansah. Sie war eitel und sehr ungerecht gegen sich. Denn abgesehen davon, daß sie im Typus ein wenig stämmig war, mit breiten Schultern und breiten Hüften (ein Erbteil ihrer schwedischen Mutter), hatte sie einen frischen, festen Körper, sehr schöne kleine Brüste, einen wohlgeformten kräftigen Hals, auf dem frei und ungezwungen der breite, schön durchmodellierte Schädel aufsaß.
Gesine zog an diesem Tage zu den Reithosen einen schwedischen blauen Leinenkittel an.
Sie kam vergnügt zum Frühstück. Tante Monica lächelte. Die Morgensonne schien einen Augenblick auf den Eßtisch. Nur Kornmann, der Diener, war schlechter Laune. Er brauchte seine acht Stunden ungestörten Schlaf, sonst haßte er das Leben. Er hatte seiner Frau noch nachts die Meinung gegeigt über Landstreicher, denen ein Bad ins Zimmer geschleppt werden muß. Adlige natürlich. Ob sie, Frau Kornmann, noch immer nicht soviel Verstand aufgepickt hätte, um zu begreifen, daß alles Unglück in Deutschland von den Adligen kam. Nicht von den Herren. Nein, die mußten sein. Aber die Adligen waren schuld.
Jetzt sah er unzufrieden auf die zufriedene Herrin. Nichts hatte sie gelernt, wenn sie schon wieder Adlige verwöhnte.
Tante Monica sprach über den Regen und den Frühling. Kein Wort über die Nacht. Sie kam nicht darauf, nach Dingen zu fragen, die man ihr nicht erzählte. Gesine telefonierte mit Dr. Rückert in Wangerin, sprach lange mit ihm über Wickel und Bäder, Hungerkrankheiten und Lungenaffektionen. Bestellte ihn.
„Es sind ungewöhnliche Kerle“, sagte sie dann endlich zur Tante.
„Auf dem Marsche nach Kurland. Balten.“
„Wollen sie zu Fuß durch den Korridor?“ fragte Tante Monica, „oder über das Meer?“
„Sie haben überhaupt kein Geld“, sagte Gesine, „also werden sie wohl ganz laufen müssen. Erstmal bleiben sie ein paar Tage.“
„Sie sollten vielleicht hier essen“, schlug Tante Monica vorsichtig vor. Sie konnte nicht durch Kornmanns empörtes Schulterzucken beeinflußt werden. Denn sie sah es nicht. Gesine war nicht dafür, daß man sich gleich zu sehr zusammen tat. Man mußte wirklich abwarten, wie die Herren waren. Außerdem mußte Brincken noch im Bett bleiben. Es genügte, wenn man sie nicht der Gesindeküche zuteilte, sondern der Herrschaftsküche, in der allerdings oft aus Tellern dasselbe gegessen wurde, was das Gesinde aus Schüsseln aß.
Gesine machte ihren Morgenritt. Für eine Stunde kam die Sonne heraus. Am langen Hang war es sommerwarm. Kohlisch fuhr emsig mit seinem Traktor schnurgrade Furchen, in denen sich Nebelkrähen balgten. Eine Traube von Staren saß erwartungsvoll in den Erlen.
„Der Kerl geht nun großartig“, rief er und klopfte seiner Maschine freundlich das Hinterteil. Endlich konnte er seine Erzählung vom Tag zuvor beenden. Daß die zwei Barone „wie im Kino“ aus dem Dobbenwald herausgekommen waren, der eine nicht sicher auf den Beinen. Daß er aber gleich munter geworden war, als er den Traktor hatte stehen sehen. Daß er gleich „den Kniff“ heraus hatte, trotz seines Fiebers „wie ein Wunderdoktor mit Handauflegen“, und obwohl der lange Ziegenbart ihn nicht in Ruhe ließ, sondern weiterziehen wollte, und ob die gnädige Frau noch böse war, weil er die Herren gleich auf den Hof gefahren hatte.
Gesine bot ihm eine Zigarette an und zeigte damit, daß sie nicht böse war. Nein, sie war sogar vergnügt und ließ sich das Vergnügen nicht nehmen durch die Einwände ihres klugen und von vielerlei Kummer skeptisch gewordenen Kopfes, durch die „nüchterne Stimme“ ihres hellen und sauberen Gewissens.
Die „nüchterne Stimme“ ritt natürlich nach Brandhoff mit, auf das Unglücksvorwerk, das fortwährend Katastrophen hatte, sie begleitete die Gutsherrin über das sanft gehügelte Ackergelände, das die große Freiheit genannt wurde (die Roggenwinterung stand ausgezeichnet, zwei Hasen hoppelten humoristisch langsam davon), und sie ritt um den Ellernsee mit bis zum Holzhof, auf dem die Sägemühle jammerte und das Holz harzig roch.
Die nüchterne Stimme wiederholte unermüdlich, daß man nicht glücklich wird, wenn man anderen Leuten ein paar Kilometer weiterhilft, daß Hilfe am andern Geschlecht (außer unter Greisen) meist eine zweigesichtige Sache ist. Daß hinter der kleinen Abwechslung und Verliebtheit (Brr ... halt, das war doch ein bißchen scharf ausgedrückt), hinter der kleinen Verliebtheit (bitte, war sie etwa nicht schwach in den Knien geworden, als der Kranke nach ihr griff, gleich bei ihrem ersten Krankenbesuch?), daß hinter der kleinen und sinnlosen Verliebtheit wieder der große Katzenjammer der Einsamkeit und Arbeit dreinmarschieren mußte.
Читать дальше