Gesine ritt nicht nach Brandhoff hinunter, sondern bog am hellgrauen Ellernsee ab und ritt langsam nach Grünwalde zurück. Die Taucherenten lärmten vergnügt im Wasser, drei Rehe wechselten über den Weg. Ein paar Dorfkinder, die aus der Schule kamen, stellten sich an den Waldrand und grüßten mit hellen flachen Stimmen. Als Gesine zurück war, dämmerte es schon.
Sie holte ein paar Apfelsinen aus der Küche, Handtücher, Bettwäsche, eine Schachtel Zigaretten, ging zum Stall hinüber. Sie stieg die steile Treppe hinauf, stand im Halbdunkel über den Kühen, die schweigend ihr Heu mahlten, klopfte.
Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal. Im Zimmer fing einer an zu singen, mit rauher Stimme, viel zu tief, ein paar Worte nur. Gesine trat ein.
Im riesigen Kachelofen, der mit dem hineingebauten Schornstein zusammen das halbe Zimmer einnahm, prasselten die Birkenkloben. Die Winterluft taute. Schmetterlinge, Pfauenaugen und Trauermäntel waren aufgewacht und schwirrten rasselnd am Fenster. Der Kranke lag bewegungslos, mit offenen Augen in seinem Bett. Jetzt fing er wieder an zu singen. Wirr, in einzelnen langgezogenen Tönen, mit gesprochenen Worten dazwischen:
Es war einmal ein Kriegskamerad,
Zog mit dem Kam’raden von Stadt zu Stadt.
„Ich habe hier ein paar Apfelsinen“, versuchte Gesine schüchtern. Brincken antwortete nicht. Er drehte sich vorsichtig um und sah die Frau mit ausdruckslosen Augen an.
„Nabend“, sagte er. „Sie wünschen bitte?“
„Ein paar Apfelsinen ...“ wiederholte Gesine Otten. „Bitte schön, die werden Ihnen gut tun.“
Brincken schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach der Frau aus. „Kommen Sie mal her“, sagte er. „Kommen Sie mal her ...“
Die Frau trat ans Bett. Der Mann packte sie blitzschnell mit beiden Armen, zog sie an sich heran und preßte sein Gesicht an ihre Brust. „Jawohl“, sagte er, und zum erstenmal hörte Gesine seine Stimme so klar und hoch, wie sie eigentlich war. „Jawohl. Wunderbar sind Sie. Wunderbar.“
Damit ließ er sie los, legte sich seufzend wie nach einer schweren Arbeit in die Kissen zurück und sang weiter:
Er sprach zu ihm: die Städte sind gesund,
Nur wir, Kam’rad, wir kamen auf den Hund.
Gesine stand am Fenster. Man sah durch die kleine Scheibe schräg hinüber ins Herrenhaus. Man sah Kornmann im Speisezimmer den Abendbrottisch decken, man sah Tante Monica sich über den Hof tasten. Die Stare lärmten in Scharen auf den beiden Tannen, unruhiges Abendgezirp. Ein Wagen rollte in den Hof, ein Scheck und ein Schimmel davor, ein lustiges Gespann, aber ein wenig lustiger Lenker, Herr von Peipper, Pächter der Domäne Groß-Schörnitz, ein hervorragender Landwirt, leider verliebt.
Gesine wandte sich zu Brincken um. Aus den Kissen kam nur ein kleiner Schopf hellblonder Wolle, Locken, ein wenig strähnig und vom Wetter angegilbt.
„Kann ich etwas für Sie tun, Herr von Brincken?“ sagte Gesine. Brincken antwortete nicht. Er war schon wieder in seinem Gesang. Er lallte:
Wir haben die Städte vier Jahre vorm Feind geschützt,
Sieh dich an, Kam’rad, sieh mich an,
Was hat es uns genützt?
Frau Otten ging vorsichtig am Bett vorbei aus der Tür, stand wieder über den Kühen in der Fellwärme, Milchwärme, Heuwärme.
Drinnen schlug Brincken mit der Faust gegen die Bettwand wie auf eine Pauke und wiederholte schreiend:
Sie dich an, Kam’rad, sieh mich an,
Was hat es uns genützt?
Gesine lief die Treppe hinunter. Hinter dem Stall fand sie Tungern beim Holzhacken. „Er phantasiert, Ihr Freund“, „er singt.“
„Jawohl, gnädige Frau. Er singt ein Marschlied“, antwortete Tungern. „Hören Sie mal zu. Es ist ganz hübsch. Wir beide haben es zusammen gedichtet. Die einzige Poesie unseres Lebens.“
Sie standen still. Immer noch hämmerte Brinckens Faust gegen das Bettholz. Aber die Worte, die er sang, konnte man nicht verstehen.
„Verstehen Sie?“ fragte Tungern. „Kein freundliches Lied.“ Er sang:
Sie jagen uns aus den heilen und sauberen Städten hinaus,
Die Städte leben, Kam’rad, unser Leben ist aus.
Er sang die bitteren Verse fast zierlich, in einer Hand das Beil, in der anderen eine Zigarette.
„Sie werden mindestens noch morgen bleiben müssen“, sagte Gesine Otten etwas schüchtern.
„Jawohl, gnädige Frau“, sagte Tungern ziemlich abwehrend.
Gesine verstand den Vorwurf ganz gut. Sie versuchte sich zu entschuldigen. Tungern müsse doch verstehen. Man könne beim besten Willen nicht ein Sammellager von Landstraßenexistenzen schaffen. Die wenigsten seien auch so alte Soldaten. Die meisten junge Kerle, ziemlich faul, unerzogen, ziellos, sicherlich auch vom Schicksal nicht besonders gut behandelt.
Der Ziegenbärtige nickte. Er stand neben der Gutsherrin, zwei Köpfe größer als sie, die bestimmt nicht klein war, sah auf sie hinunter und sagte: „Wenn wir morgen noch bleiben können, so ist das die Hauptsache für mich. Daß Sie uns loswerden wollten, nehme ich Ihnen nicht übel. Sie haben bestimmt recht. Die Landstreicher sind zu einer gefährlichen Landplage geworden. Eine Armee von Habenichtsen. Aber selbst, wenn Sie nicht recht hätten: Jedes Ding läßt sich solange von vielen Seiten betrachten, bis es nicht mehr da ist.“
„Wir sprechen ein andermal weiter“, sagte Gesine und gab Tungern die Hand. „Jetzt erwartet man mich.“
Herr von Peipper, ein kleiner rundlicher Mann mit Cäsarenkopf, in einem zu hellen Frühjahrsanzug und einem Parteiabzeichen im Knopfloch, unterhielt sich mit Tante Monica über die Lage der Landwirtschaft. Man war nach langen trüben Jahren wieder hoffnungsvoller. Es gab Aussichten, zum Beispiel für Milch und Fett.
Gesine erschien zum Abendbrot in einem einfachen schwarzen Tuchkleid mit weißem Kragen, in dem sie schmaler aussah, als in den Hosen, beinahe schutzbedürftig.
Man sprach von Saatberichten, von den Aussichten der Roggenvorzucht, von der besseren Verwertung der Schweine. Über innere Politik drückten sich alle sehr zurückhaltend aus. Peipper gehörte nämlich zu den weniger Radikalen, während Gesine bekannt war als der erste Ultra im ganzen Kreis. Allerdings hatte sie auch darin ihre besondere Note: sie verfocht die absolute Unabhängigkeit der Frau, was man ihr nach den traurigen Erfahrungen ihres Lebens nicht übelnahm.
Gesine erzählte dann von ihren maroden Baronen. Peipper kannte den Namen Tungern. Mit einem Tungern hatte er 1910/11 bei den Halberstädter Kürassieren gedient. Ein toller Kerl, mit Mühe eingedeutscht. Machte großartige Dummheiten im Jeu und mit Frauen, mußte gehen, nachdem er ein kleines Herzogtum durchgebracht hatte, dreißigtausend Morgen mit ein paar Dörfern, ging ins Baltikum zurück, wurde russischer Offizier und sollte als Adjutant von Rennenkampf bei den Masurischen Seen gefallen sein.
Peipper beurteilte alle Balten nach diesem einen, fand deshalb, daß sie allzu leicht in zwei Vaterländern zu Hause seien, daß sie großspurig und großartig zugleich, doch immer Außenseiter des Deutschtums bleiben würden. Grenzlandmenschen, geeignet zur Verteidigung verlorener Posten, unfähig zu zäher, persönlicher Arbeit.
Gesine widersprach etwas gereizt, obwohl sie kaum Balten kannte. Einmal war einer als Inspektor bei dem Nachbarn gewesen, dem Herrn von Berg-Wangerin. Das war ein tüchtiger, stiller Mensch, der durch nichts auffiel, außer daß er alle drei, vier Monate stier betrunken aus einem Bauernkrug nach Hause getragen werden mußte. Sonst wußte sie nur, daß die Balten noch östlicher waren als die Ottens, viel leichtsinniger und vielleicht auch noch melancholischer. Daß sie höflich waren, aber von einer Höflichkeit, die ein bißchen anexerziert wirkte. Daß sie die Reichsdeutschen etwas von oben herab ansahen, daß sie die Reinrassigkeit gepachtet hatten, und daß im allgemeinen die baltischen Männer hübscher waren als ihre Frauen, von denen sie einige als Tanten, Cousinen und Hausdamen in der Umgebung erlebt hatte, wahre Tugendburgen und Kirchenstützen.
Читать дальше