Eine neue Welt erschloss sich ihr an diesem Tage. Der „Flughof“, den Walter besuchte, lag an der Peripherie von Europas grösstem Landungshafen. Marlene bedeutete Berlins Tempelhofer Feld mit seinen umfangreichen Baulichkeiten, den Ankermasten und Flugzeichen, die dem internationalen Luftverkehr dienten, völliges Neuland.
Nachdem Jansen seinen Auftrag erteilt hatte, führte er seine Begleiterin dort umher, wo er seit Jahren heimisch war. Sie staunte das buntgehaltene Mitropa-Flughafen-Hotel an, in dem Fremde aller Herren Länder wohnten. Der Dachgarten entzückte sie ebenso wie die geräumige Glashalle, der „Bahnhof“ der Fluggäste.
Noch lag das schönste Erlebnis vor ihr. Walter Jansen war plötzlich von ihrer Seite verschwunden, um einige Minuten später wieder aufzutauchen.
„Fräulein Hagen, haben Sie Lust, mit mir eine Fahrt ins Blaue zu machen? Eine Kollegin von der Fliegerschule stellt mir ihr Sportmaschinchen zu einem Aufstieg mit Ihnen zur Verfügung! Würden Sie sich mir wohl anvertrauen?“
Jedes Gefühl von Furcht war Marlene fremd, selig nickte sie. Marlene nahm ihren Platz im Flugzeug ein und wurde festgeschnallt. Jansen setzte sich hinter sie, der Motor brummte und langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung. „Glück ab!“ schrien die Zurückbleibenden.
Zuerst glaubte Marlene im Auto zu sitzen, denn sie merkte nichts davon, dass sich die Maschine in die Lüfte hob. Der Zement war sanftem Grün gewichen, von dem sich allerlei Bojen und Signalzeichen abhoben. Dann hatte auch das ein Ende und ganz, ganz vorsichtig schien das Flugzeug empor zu schweben.
In sanften Kurven ging es aufwärts. Ein leichtes Gefühl des Schwindels hatte das Mädchen erfasst, das unter der Brille aus Kunstglas nervös die Augen schloss. Aber als es merkte, dass ihr Herz ruhiger zu schlagen begann und die Schwankungen aufgehört hatten, nahm sie sich zusammen und blickte gespannt umher. Doch schon liess Marlene schaudernd die Lider wieder sinken. Denn sie sah in die Unendlichkeit; nichts als der blaue Himmel lag vor ihr. Gewaltsam riss sie sich zusammen und wandte den Kopf. Da sass hinter ihr, mit festen, braungebrannten Zügen und sicheren Bewegungen, Walter Jansen und handhabte den Steuerknüppel ebenso gelassen wie sonst das Lenkrad des Autos. Ein Lächeln grüsste Marlene, und eine Bewegung von ihm liess sie abwärts sehen.
Mit einem Schlage hatte sie sich jetzt wieder in der Gewalt. In vollen Zügen nahm sie das bunte Bild, das in dreihundert Meter Tiefe zu ihren Füssen lag, in sich auf. Die kaleidoskopartig wechselnde Landschaft war bezaubernd. Als sie eine Stunde später in sanftem Gleitflug wieder in Tempelhof niedergingen, war Marlene immer noch wie in einem Rausche der Begeisterung.
Dieser Flug an der Seite Walter Jansens war wirklich ein geradezu überirdisches Erlebnis gewesen.
Marlene fand sich aus ihrer Träumerei wieder zur Gegenwart zurück. Mit Tränen in den Augen schaute sie dem Flugzeug nach, das sich jetzt höher und höher schraubte und nun in westlicher Richtung verschwand. Wenn Walter Jansen ahnen würde, wer hier unten seinem kühnen Fluge gefolgt war! Vielleicht wäre sie heute neben ihm gewesen als Kameradin, als die glückseligste Frau an seiner Seite. Sie hatte wohl gefühlt, warum er sie damals mit herausgenommen hatte, warum er sie beinahe leidenschaftlich gebeten, mit zu fliegen. Er wollte, auch sie sollte kennenlernen, was ihm das höchste Glücksgefühl im Leben bedeutete, und sie hatte mit ihm gefühlt aus vollem jubelndem Herzen.
Als sie gelandet waren, hatten sie sich nur angeschaut. Aber in ihren Augen hatte er wohl alles gelesen, was sie sich zu sagen gescheut. Denn er hatte ihre Hände ganz fest ergriffen und nur gesagt:
„Zufrieden mit mir, Fräulein Hagen?“
Dann waren sie zusammen heimgefahren in seinem kleinen Sportwagen. Es war ein wundervoller Vorsommertag gewesen. Ja, er war ähnlich gewesen diesem Tage heute. — Walter Jansen, der sonst auch im Autofahren einen Schnelligkeitswahnsinn hatte, wie er es selbst nannte, war damals fast im Schneckentempo gefahren. „Will Ihr Wagen nicht mehr?“ hatte Marlene gefragt. Aber sie war feuerrot geworden, als Walter Jansen geantwortet: „Der Wagen will schon, bloss ich will nicht schneller. Ich möchte nämlich die Zeit des Zusammenseins mit Ihnen mit List und Tücke ein wenig verlängern, Fräulein Hagen.“
Sie vermochte nichts zu sagen. Sie widersprach auch nicht, als er sie bat:
„Lassen Sie uns doch den schönen Tag draussen zu Ende verbringen, Fräulein Hagen. Jetzt nach dem herrlichen Erlebnis des Fliegens an diesem schönen Sommerabend schon hinein in die stickige Stadt? Brrr — es schüttelt mich richtig. Wissen Sie was, wir fahren noch irgendwo hinaus und essen zusammen Abendbrot.“
Zögernd hatte sie gesagt:
„Ja, aber ich weiss doch nicht recht, mein Vormund ist krank. Ich weiss nicht, ob ich ihn allein lassen kann. Wüsste ich, dass er gut schläft, dann würde ich es vielleicht machen. Ich bin schon lange nicht mehr so richtig an die frische Luft gekommen.“ Ach, noch in der Erinnerung fühlte sie den guten warmen Blick Jansens, mit dem er sie angeschaut hatte. Dann hatte er gemeint: „Glauben Sie denn, Fräulein Hagen, ich habe nicht meine Absicht dabei gehabt, dass ich Sie heute auf den Flugplatz mitnahm? Verdammt schmal und blass sind Sie geworden in der letzten Zeit. Die paar Stunden draussen in der frischen Luft haben Wunder gewirkt. Sie schauen schon wieder ganz anders aus.“ Damit hielt er Marlene einen Taschenspiegel vor die Nase. Marlene, die sich im Spiegel sah, musste konstatieren, Walter Jansen hatte recht gehabt. Ihre Wangen zeigten ein zartes Rot, ihre Augen hatten wieder Glanz. Scherzend meinte sie, es wäre wirklich eine richtige kleine Erholungskur, die man heute mit ihr gemacht hätte. Walter Jansen hatte energisch erklärt, dass man eine gut begonnene Kur auf keinen Fall so schnell abbrechen dürfte. Dann hatte er Marlene veranlasst, mit der Pflegerin ihres Vormunds und Pflegevaters zu telephonieren. Marlene erfuhr, dass er gut und ruhig schliefe. Die Pflegerin selbst, eine freundliche ältere Diakonissin, hatte ihr zugeredet, den schönen Sommerabend draussen zu verbringen.
So hatte Marlene leichteren Herzens Walter Jansens Vorschlag annehmen können. Wie weh wurde ihr ums Herz, als sie jetzt an jenen Abend dachte. Sie hatten in einem kleinen Restaurant am Wasser gesessen. Ihr Platz war überdacht gewesen von einer grossen Kastanie, die ihre schattigen Zweige tief herabhängen liess. Die Zweige waren bestickt gewesen mit tausend Blütenkerzen; wenn der Wind ging, so glitt hin und wieder eine der weissrosa Blüten wie ein verträumter Falter durch die Luft auf ihren Tisch.
Walter Jansen hatte an diesem Abend mit Marlene noch kein Wort von Liebe gesprochen. Aber, wie er hier seine Zukunftspläne darlegte und immer wieder dazwischen sagte: „Ich will ja nicht nur für mich etwas erreichen aus Ehrgeiz, Fräulein Marlene, ich will auch, dass ein liebes Mädel einmal stolz auf mich sein kann und wissen soll: Bei dem Walter Jansen, da ist man gut aufgehoben. Glauben Sie, Fräulein Marlene, dass es einmal so etwas geben wird?“
Er hatte sie so bittend angeschaut mit seinen aufrichtigen, hellen Augen. Er hatte ihr seine Hand mit einer so ehrlichen Bewegung entgegengehalten, dass sie nicht anders gekonnt hatte, als einzuschlagen und zu sagen: „Das glaube ich schon, Herr Jansen ...“
Da hatte er sich über ihre Hand gebeugt und sie leise geküsst.
Sich wieder aufrichtend, hatte er mit einem tiefen Atemzug gesagt: „An dies Wort, Fräulein Hagen, will ich Sie erinnern, wenn ich glücklich von meinem Ostasienflug zurück bin. Ich soll dann erster Flugzeugkonstrukteur bei den Phönixwerken werden. Dann bin ich nicht mehr nur der Sohn meines Vaters, sondern ein Mann, der einer Frau Heim und Haus bieten kann. Bis dahin, Fräulein Marlene!“
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