Nora Olafson
Sich selbst darauf besinnen, was zur eigenen Welt gehört und wie die Welt außerhalb aussieht, gehört zur Weiterentwicklung eines Erwachsenen. Die Prinzessin Liane kann dabei für Erwachsene und Kinder ein hilfreicher Begleiter sein. Wir sind alle dazu aufgerufen, immer wieder neu zu erkennen, was wirklich wichtig ist, im Leben. Insofern ist dies ein Märchen für Kinder und Erwachsene.
Karlsruhe, den 25. Mai 2015 Nora Olafson
Es war einmal eine Prinzessin, die lebte in einem kleinen, aber reichen Königreich. Ihr Vater war der König, und weil jeder Mensch einmal sterben muss, wussten die Menschen, dass Prinzessin Liane eines Tages ihre Königin sein würde. Der König hatte nur diese Tochter. Aus lauter Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte, verbot er ihr, was für andere Kinder ganz normal ist, zum Beispiel das Radfahren. Die anderen Kinder beneideten sie. Denn sie glaubten, eine Prinzessin darf alles. Im Gegensatz zu ihnen lebte sie in einem großen Schloss. Viele Kinder hatten sie schon einmal besucht, denn der König wollte, dass die Menschen sehen könnten, wie er lebte. Die Kinder glaubten, es müsste ein himmlisches Gefühl sein, in einem Schloss zu Hause zu sein. In dem Schloss gab es viele prunkvolle Zimmer, die mit Stoff tapeziert waren und wunderschöne Holzfußböden hatten. Auch glaubten sie, dass eine Prinzessin sehr glücklich sein müsse, weil sie doch alles hat. Aber Liane, die Prinzessin, von der ich euch erzähle, fühlte sich sehr einsam. Sie war oft mit der Nanny allein im Schloss. Sie musste ihr gehorchen. Dabei musste Liane vieles tun, was sie nicht wollte. Aber ihr Vater, der König, war der Meinung, dass Liane viel wissen müsse, wenn sie einmal Königin sein würde.
Für alles, was sie lernte, hatte sie einen besonderen Lehrer. Isolde war ihre Ballettlehrerin. Sie trainierte mit ihr sehr oft. Liane sollte sich später einmal graziös bewegen können. Aus anderen Ländern waren Lehrer gekommen, die ihr fremde Sprachen vermitteln sollten.
Oft verfluchte Liane das Schloss, ihr Leben und konnte überhaupt nicht verstehen, dass die Menschen sie beneideten. Wie konnte man wünschen, ihr Leben zu führen? Wie konnte es sein, dass ihre Welt als die perfekte Welt erschien? So viele Mädchen verkleideten sich als Prinzessin, wenn die Fastnachtstage kamen.
Da König Hubertus nur diese Tochter hatte, war er sehr bedacht, dass sie beschützt wurde. Immer hatte er Angst, es könnte etwas passieren. So durfte sie nicht Radfahren lernen. Dabei wäre der große Schlosspark mit seinen Wegen, die durch Rasenflächen, Wald, Blumenbeete führten, ideal gewesen. Alles Betteln half nichts. Es war wirklich ein trauriges Leben. Es half auch nicht, dass Liane ein großes Spielzimmer hatte. Da gab es viele Puppen und Autos, Sportgeräte und Bücher, Spiele und Kleider. Wenn Weihnachten und Geburtstag waren, dann wurde es ihr oft zu viel, alle die wunderschön verpackten Geschenke zu öffnen. Sie wünschte sich ganz andere Dinge.
Genau genommen wusste sie gar nicht recht, was sie sich wünschte. Aber sie hatte eine Ahnung davon, dass das Leben noch viel mehr bieten müsste, als dies bei ihr der Fall war.
Eines Nachts erschien bei ihr ein Engel. Sie lag im Bett und dachte darüber nach, was sie sich wünschen sollte, da erschien Bonifatia an ihrem Bett. “Hallo, liebe Liane. Ich bin Bonifatia. Wie du siehst, habe ich Flügel. Ich bin ein Engel. Ich habe eine wunderbare Aufgabe: Ich darf Menschen glücklich machen.“ Liane setzte sich in ihrem Bett auf. "Und wie kommst du hier herein ins Schloss?“ “Ich bin doch ein Engel. Ich weiß, dass du unglücklich bist, deshalb habe ich mich aufgemacht. Ich will mit dir das Glück suchen. Ich weiß, dass jeder Mensch glücklich werden kann. Viele Menschen wissen nicht, wie sie es anstellen sollen. Manchmal muss man ihnen nur ein bisschen unter die Arme greifen. Das erste ist, dass ich dich glücklich machen werde. Dann werde ich dir zeigen, wie du andere glücklich machen kannst.“
Liane lächelte.
„Siehst du, so gefällt mir das schon viel besser. Wer in die Welt lächelt, wird bald Menschen finden, die zurück lächeln. Da hast du einen großen Schritt getan. Ich werde dich nun an die Hand nehmen und führen. Du wirst sehen, dass du bald alleine gehen kannst. Wenn wir nach draußen in die Welt kommen, werde ich für die anderen unsichtbar sein. Aber ich bin die ganze Zeit neben dir und beschütze dich.“
„Und wann geht es los?“ Wollte die Prinzessin wissen.
“Ich hole dich morgen ab. Solange wir durch das Schloss gehen, fasse ich dich an der Hand. Das ist wie ein Zauber. Niemand wird dich daran hindern, durch die Türen nach draußen zu gehen. Am Abend, wenn wir zurückkehren, werde ich dich wieder an der Hand fassen und niemand wird dich fragen, warum Du so lange fort warst. Und wenn wir dann draußen sind, werde ich dich loslassen, aber immer in Deiner Nähe sein. Du wirst spüren, dass ich da bin. Du kannst mich immer fragen, wenn du etwas wissen willst, aber du musst leise fragen, denn die anderen sehen mich nicht.“
“Und was soll ich tun?“, fragte Liane.
„Lass dein Herz sprechen. Wenn du dann weißt, was zu tun ist, dann prüfe immer erst noch einmal, ob das wirklich aus deinem Herzen kommt. Denn es ist so, dass der Mensch weiß, was er tun soll. Es ist schwer, dem zu folgen, aber wenn der Mensch das tut, was er mit dem Herzen erkennt, dann wird er glücklich.“
Der Engel lächelte Liane an.
“Morgen bereits werde ich dich nach draußen in die Welt nehmen. Du wirst sehen, da gibt es so vieles, was Menschen glücklich macht. Wir werden uns nur den Dingen widmen, die dich glücklich machen.“ Liane starrte den Engel an. “Ich habe doch alles, was man sich wünschen kann und erlebe, dass es mich nicht glücklich macht.“
„Aber das ist es doch gerade“, erklärte ihr Bonifatia. „Die Menschen glauben immer, dass es die materiellen Dinge sind, die sie glücklich machen. Deshalb beneiden dich auch die Kinder – aber sicher nicht nur sie. Sie sehen deine wunderschönen Kleider und meinen: Alle, die solche Kleider tragen, müssten auch glücklich sein. Du weißt am allerbesten, dass das nicht so ist.“ Bonifatia verließ Liane, die verdutzt zurückblieb.
Ich gehöre dazu
Der nächste Morgen versprach ein strahlender Tag zu werden. Bonifatia kam ins Schloss, nahm ohne zu zögern Lianes Hand und ging mit ihr nach draußen. Aber vorher hatte sie noch darauf bestanden, dass Liane eine alte Jeans anziehen sollte. Da niemand im Schloss geduldet hätte, dass Liane eine solche Hose tragen würde, hatte Bonifatia ihr eine Hose und ein T-Shirt mitgebracht.
Wie sie es versprochen hatte, nahm sie die Prinzessin an der Hand und verließ mit ihr das Schloss. Niemand störte sich daran. Auch dass Liane unmöglich aussah, wie ihre Mutter es sonst genannt hätte, war kein Grund, sie nicht gehen zu lassen.
Liane und Bonifatia fanden sich auf der Straße wieder. Es war laut. Viele Autos waren unterwegs. In den Straßen freuten sich die Menschen an der Sonne. Auf einem Spielplatz kickten einige Kinder mit einer Konservendose.
“Bonifatia schau mal. Sie haben nicht einmal einen Ball.“
“Schau lieber in die Gesichter“, flüsterte Bonifatia. „Bemerkst du nicht, wie fröhlich sie sind?“
Liane war überrascht. “Wie können sie fröhlich sein, wenn sie nicht einmal das richtige Sportgerät haben?“
“Das zeigt, dass du noch nicht weißt, was im Leben wirklich zählt. Ich zeige dir jetzt ein Beispiel: Gehe zu den Kindern hin und frage sie, ob sie dich mitspielen lassen!“
“Aber ich kann noch gar nicht Fußball spielen!“, sagte Liane.
„Das kann man lernen“, flüsterte Bonifatia. Denn die Kinder konnten den Engel nicht sehen. Liane ging langsam auf die Buben zu. Hui, die Dose landete in einem Beet. Ein Kind – es war Benno – lief hinterher, während die anderen Kinder stehen blieben und warteten.
Читать дальше